Rassismus und Sprache in Lateinamerika

Mirta Noemí Cohen
 

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Rassismus ist eine von Vorurteilen geprägte soziale Praktik, die menschliche Wesen in unterlegene und überlegene einteilt. Der lateinamerikanische Kontext spiegelt seit der Kolonisation der indigenen Gebiete und bis heute durch die unterschiedlichen Äußerungsformen von Gewalt einen Zustand von Unsicherheit und von Reproduktion endloser Gewalttaten wider, was dem gut verankerten und eingebürgerten Rassismus geschuldet wird.

Han spricht in seinem Buch La expulsión de lo distinto von der Angst vor dem Anderen und sagt, dass das Einzige, was die Existenz mit den Anderen verbindet, das Zuhören ist. Wenn ich nicht zuhöre und mir nicht zugehört wird, wird mein Leiden in den privaten Bereich geschoben, halte ich mich für hinlänglich, für einzigartig. Eine der Formen, wie dieses seelische Leiden vermieden werden kann, ist, es zu vergesellschaften. Wie aber kann ich dem Anderen zuhören, wenn ich seine Sprache verneine?

Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass Identität, identisch und Idiom dieselbe Wurzel haben: idem (Corominas), was „dasselbe“ bedeutet – weshalb man eine sprachliche Kategorie der Identität annehmen kann. Es ließe sich sagen, dass das Subjekt ist, wie es gesprochen wird, seine Namen, Beinamen, Spitznamen bilden eine sprachbezogene Identität, die uns von ihm spricht. Die diskursive Verflechtung an sich ist das, was dem Subjekt eine bestimmte Identität gibt.

Daniel Mato, Forscher bei der Conicet, sagt in einem Interview, dass die argentinische Gesellschaft sich nicht einmal ihres Rassismus bewusst  ist, und er fügt hinzu, dass die Leute glauben, es gäbe keinen Rassismus, weil es keine segregationistischen Gesetze gibt, wie es sie in Südafrika oder in den Vereinigten Staaten gegeben hat. Und doch ist die offizielle Sprache Argentiniens das Spanische und nur wenige Provinzen erkennen ein paar indigene Sprachen als eigene Sprachen an. Im Falle Argentiniens wurde den Indigenen mit zunehmender Kolonisierung immer umfassender verboten, ihre Sprachen zu sprechen und infolgedessen auch ihre Geschichten zu erzählen. Jene Indigenen, die oft keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem haben und die aus ihren Territorien vertrieben werden, sprechen eine Sprache, die von ihren Mitbürgern auch nicht verstanden wird, während die Gesellschaft schweigend beobachtet. Kürzlich, im Jahr 2020, wurde in Argentinien die Dirección nacional de Equidad étnico racial begründet. Es gibt auch einen Vorschlag, eine verpflichtende Ausbildung zur Vorbeugung gegen den und zur Beseitigung  des Rassismus für alle Personen zu schaffen, die öffentliche Funktionen innehaben.

Häufig hört man eine sprachliche Stigmatisierung durch Personen, wenn sie mit Geringschätzung vom „gallego” [Galizier] sprechen, vom „ruso” [Russen], vom „judío” [Juden], vom „tano” [Italiener], vom „cabecita negra”[Negerköpfchen] – letzteres, wenn sie sich auf die Urbevölkerung beziehen. Identität drückt sich auch in der Oberfläche der Haut aus, im Gesicht, ja schon in den Gegenständen, die uns umgeben. In Das Ich und das Es definiert Freud (1923) das Ich als „[…] vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche”. Die Haut setzt der äußeren Welt eine Grenze und gibt dem Ich eine gewisse Kohäsion, was sich im Körperlichen zeigt.

Da die Haut die Oberfläche des seelischen Apparats darstellt, erzeugt jegliche Veränderung der Haut Auswirkungen, die sich direkt in der Identität und folglich in der Figuration des Seins niederschlagen. Da die Haut eine Hülle ist, ist sie das erste, was sich dem Blick der Anderen darbietet. Häufig lässt sich beobachten, dass in vielen Ländern Lateinamerikas, wo die weiße Klasse dominant ist, Personen mit dunklerer Haut diskriminiert und nur für weniger qualifizierte Arbeiten eingestellt werden.

Wenn wir Verhalten und Sprechweise der Personen berücksichtigen, können wir feststellen, dass ihre sprachlichen Fehlleistungen – hinzugezählt zur Notwendigkeit, die hegemoniale Dominanz zu überwinden, die ihrerseits patriarchal ist – unter anderem eine radikale Veränderung in den sprachlichen Strukturen erfordert. Der derzeit am häufigsten gehörte Vorschlag stammt vom Feminismus, der eine inklusive Sprechweise verbreitet. Der Rassismus, der in der Gesellschaft vorherrscht, wird neu beim Jugendlichen und seiner Familie beobachtet – und ganz besonders in der Mutter-Sohn-Beziehung.

In dieser Beziehung wurzeln ambivalente und destruktive Wünsche in Hinblick auf die Vaterfigur, die in der Phantasie gestärkt werden durch das patriarchale Modell der Abstammung und Überlieferung, das oft von den Frauen unterstützt wird. Dann beobachten wir, dass der Rassismus nicht nur von dem getragen wird, der herrscht, sondern auch von dem, der beherrscht wird. Dies sehen wir im Streben nach einer Identifikation mittels Operationen oder in der Art, sich zu kleiden oder sich das Haar mit verschiedenen Tinkturen einzufärben. All dies gescheiterte Versuche der Identitätsverleugnung.

Die individuelle und kollektive Gewalt, die als Konsequenz der Auslöschung des nom-du-père und des konkreten Fehlens eines wirklichen In-Angriff-Nehmens der sprachlichen Ermächtigung entsteht, wird auch seitens von Frauen mit einigem phallischen Beigeschmack weitergetragen. Deshalb sollte eine neue diskursive Form gefunden werden, die sich nicht auf die primäre Bezeichnung von Anfangsphänomenen („les”, „elles“ etc.) beschränkt, sondern die den Bezeichnungsprozess vervollständigt, indem sie sich dem Sprachlichen und Imaginären entzieht, um das Symbolische zu übernehmen.

Es lässt sich beobachten, dass die in Lateinamerika aktiven Feminismen Gefahr laufen, das hegemoniale patriarchale Modell in Umkehrung zu wiederholen, so dass dieses – aufmerksam für die Verlagerung der Sprache, der Redeweise und der Macht – mehr Gewalttätigkeit in den Männern hervorrufen könnte.

Schlussfolgerung: Mittels Inklusion der autochthonen Sprachen und der verschiedenen Sprechweisen wird ein Code erzeugt, inkludiert und etabliert. Eine neue Sprache? Das Wichtige ist, dass es eine inklusive Sprache ist, die jede und jeden einzelnen repräsentiert. Für die Akzeptanz einer Sprache ist es nötig, dass der Respekt vor der Muttersprache und vor der väterlichen Funktion verankert ist. Die väterliche Funktion wird ausgeübt und das Kind trennt sich von der Mutter. Durch diese Trennung wird das Subjekt in die symbolische Ordnung der Sprache integriert.

Literatur
Han, Byung- Chul (2017). La expulsión de lo distinto. Barcelona: Ed. Herder.
Cohen, M, (2002). La lengua el lenguaje y la huella. Buenos Aires: APA.
Cohen, M, (2005). Subjetividad y lengua de origen, Buenos Aires: Editorial del Signo, 2005.
Corominas, (1980). Diccionario Crítico Etimológico  Castellano e Hispánico. Madrid: Edit. Gredos, 1984.
Freud, S. (1923). El yo y el ello, Buenos Aires: AE, 1988.
Mato, Daniel. Racismo y educación en América Latina. YouTube.

Übersetzung: Suzanne Buchner-Sabathy 
 

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