Das eigentümliche Wesen der Psychoanalyse

Dana Amir, Ph.D.
 

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Die Psychoanalyse hat seit jeher sowohl mit der evidenzbasierten Wissenschaftsforschung als auch mit dem Bereich der Kunst enge und komplexe Beziehungen unterhalten. Während die Psychoanalyse einerseits ein umfangreiches, fundiertes Zuordnungsmodell psychischer Strukturen anzubieten bestrebt ist, hält sie andererseits gleichzeitig auch an einer dichten und vielschichtigen poetischen Sprache fest, deren Besonderheit weitgehend auf ihrem spekulativen Charakter beruht. In dem hier vorliegenden Aufsatz soll nun über diese zwischen den drei Bereichen von Psychoanalyse, Wissenschaft und Kunst bestehende enge und interdependente Beziehung eingehender nachgedacht werden.

Die empirische Agenda, innere Objekte in äußere und messbare Daten zu übersetzen, steht grundsätzlich im Widerspruch zum psychoanalytischen Denken - und zwar nicht lediglich deswegen, weil die psychoanalytischen Konzepte nur schwer messbar sind, ohne dass dabei das wirklich Wesentliche unberücksichtigt bleibt bzw. verloren geht, sondern vor allem auch deswegen, weil trotz der Beharrlichkeit, mit der sie auf die Wahrheit als eigentlichem Gegenstand ihrer Untersuchungen verweist, sich die Psychoanalyse ihrer inhärenten Natur entsprechend der rein empirischen Dimension von Wissen grundsätzlich entzieht. Bei seiner Beschäftigung mit dem ‘inhärenten Dilemma des Künstlers’ gelangte Winnicott (1963) zu einer erstaunlich faszinierenden Schlussfolgerung: Obschon Künstler die Ausübung ihrer Kunst dazu verwenden, zu einem immer tieferen Verständnis ihrer selbst zu gelangen, so ist es dennoch kaum vorstellbar, dass ein Künstler mit dieser ihn ganz und gar erfüllenden Aufgabe jemals zu einem definitiven Ende kommt. Aber dieses Dilemma ist auch für das psychoanalytische Denken von signifikanter Bedeutung. Auf der einen Seite ist die Psychoanalyse darum bemüht, das menschliche Bewusstsein zu ergründen und sich dabei gleichzeitig selbst in Form einer Meta-Theorie immer wieder aufs Neue zu beleuchten und zu erforschen. Auf der anderen Seite fürchtet der psychoanalytische Denker offenbar nichts so sehr wie die Möglichkeit, dass sich seine gedanklichen Auseinandersetzungen konkretisieren, d.h. in einen messbaren und ein für allemal determinierten Gegenstand transformieren.  

Die Schwierigkeit der 'psychoanalytischen Community', sich von ihrer sie im Wesenskern ausmachenden spezifischen Eigentümlichkeit zu lösen, ist in gewisser Hinsicht mit der mangelnden Bereitschaft des Analysanden vergleichbar, sich von seinem sozusagen liebgewonnenen Symptom zu befreien, in dessen Bann und Einzugsbereich er steht. Diese besondere Schwierigkeit lässt sich vor allem dadurch erklären, dass man sich das Symptom selbst nicht als einen nach Belieben zu beseitigenden Fremdkörper vorstellen darf, sondern vielmehr als etwas, das zutiefst in die Identität des Subjekts eingegangen ist und infolgedessen eine ganz wesentliche Dimension dieser seiner Identität selbst ausmacht. Ganz in diesem Sinne ist auch die besondere Sprache der Psychoanalyse nicht als eine Art von Fremdkörper zu verstehen, die der psychoanalytischen Methode gewissermaßen lediglich von außen aufgepfropft bzw. beliebig beigefügt ist. Vielmehr ist sie im Gegenteil Ausdruck und Repräsentation davon, was die Psychoanalyse im Wesentlichen antreibt und ausmacht: ein vielschichtiger, reichhaltiger Wissenskorpus, dessen komplexe Form geradezu zwangsläufig und auf überzeugend lebendige Weise auf ihren eigentlichen Forschungsgegenstand verweist.

In einem Kapitel, welches die spezifische Eigenart ästhetischen Urteilens zu ergründen versucht, beschreiben Donald Meltzer und Meg Harris-Williams, dass in der Begegnung von Selbst und Objekt im Wesentlichen zwei unterschiedliche Modi des Kontakts zum Tragen kommen: ‘herausarbeitende’ und ‘einhüllende’ Modi ('carving' und 'enveloping'), (Meltzer & Harris-Williams, 1988, S. 250-251; siehe auch Amir, 2016).   Demzufolge kann man sagen, dass von der menschlichen Psyche immer dann, wenn sie mit einem neuen Objekt in Kontakt kommt, zwei unbewusste Handlungen durchgeführt werden, und zwar entweder gleichzeitig oder auch nacheinander. Die eine Strategie besteht darin, das neue Objekt in einen bereits bekannten und vertrauten Kontext einzubeziehen bzw. ‘einzuhüllen’, während die andere darin besteht, ihm als einem ganz und gar fremden Objekt zu begegnen und gegenüberzutreten. Und eben dies stellt die Grundlage für zwei verschiedene Phänomene dar, welche wir zum einen als ‘Wissen über’ im Unterschied zum ‘essentiellen Er-kennen’ bezeichnen können (Meltzer & Harris, S. 250-251): Während mit ‘Wissen über’ das Erkunden des Objekts von einer äußeren Perspektive her gemeint ist - wobei das Neue als Teil eines Kontinuums 'eingehüllt' und 'einbezogen' wird -, geht ‘essentielles Er-kennen’ darüber hinaus und bedeutet die Begegnung mit dem Fremden an sich.

Nun lässt sich in jeder Erkenntnis- bzw. Wissensmethode diese Hin- und Her-Bewegung zwischen Herausarbeiten ('carving') und Einhüllen ('enveloping') wiederfinden. Allerdings stützt sich die Psychoanalyse mehr als jede andere Untersuchungsmethode auf den Vorgang des Herausarbeitens. Damit möchte ich jedoch keineswegs sagen, dass die psychoanalytische Theorie sich nicht auch im allgemeinen als ein Kontinuum versteht, bzw. sich als eine spezifische Komponente in einen sequenziellen Ablauf einreiht. Worauf ich aber an dieser Stelle nochmals besonders hinweisen möchte, ist der Umstand, dass - obschon die Psychoanalyse sich häufig einer vielschichtigen und dichten Sprache bedient - sie mehr oder weniger immer der Dimension des Herausarbeitens (carving) verpflichtet bleibt, und zwar selbst dann, wenn sie sich allem Anschein nach und von außen betrachtet als eine strukturierte und kohärente theoretische Einhüllung (enveloping) präsentiert.  

Spence (1982) vertritt die Auffassung, dass - ausgehend von der Tatsache, dass fesselnde und beeindruckende Narrative tendenziell stets dazu verleiten für historische Wahrheiten genommen zu werden - die wirkliche Leistung der psychoanalytischen Denker und Theoretiker in erster Linie darin besteht, dass es ihnen gelungen ist kohärente Narrative zu erschaffen und nicht so sehr darin, eine tatsächliche Wirklichkeit abzubilden. Obwohl ich selbst nicht der Ansicht bin, dass die Überzeugungskraft der psychoanalytischen Theoriemodelle hauptsächlich in ihrer rhetorischen Raffinesse begründet liegt, so bin ich dennoch der Auffasssung, dass Spence uns auf eine grundlegende Wahrheit aufmerksam macht, die ursächlich darauf zurückzuführen ist, dass den ästhetischen Strukturen in der Psychoanalyse eine entscheidende Rolle zukommt. Dazu möchte ich nun nochmals auf die von Meltzer und Harris geäußerten Gedanken zurückkommen: Da das Wissen schlussendlich immer auch Merkmale des von ihm zu erforschenden Gegenstands aufweist, kann man generell behaupten, dass für das Explorieren bestimmter Erkenntnis- bzw. Wissensobjekte eher ein ‘Wissen über’ die geeignetere Herangehensweise ist, wohingegen andere wiederum nur mithilfe einer mentalen Aktivität zu erfassen sind, die passenderweise als ‘essentielles Erkennen’ zu bezeichnen ist. Geheimnisvoll, komplex und unbeständig, wie das Objekt psychoanalytischen Denkens bekanntermaßen ist, kann man demnach sagen, dass sich zu seinem besseren Verstehen weit weniger der Erfahrungsmodus des ‘Wissens über’ anbietet, als derjenige, der sich in stärkerem Maße auf das ‘essentielle Erkennen’ verlässt. Diese besondere Betrachtungsweise rückt die Psychoanalyse schlagartig in eine größere Ferne von der evidenzbasierten Wissenschaft und legt stattdessen tatsächlich eine unmittelbare Nähe zu dem spekulativen Wesen der Kunst nahe.

Und genau in diesem spekulativen Charakter liegt das eigentliche Wesen der Psychoanalyse begründet. Theorien werden nicht allein für operative Zwecke entworfen oder deswegen, um bestimmte Phänomene besser verstehen und erklären zu können. Vielmehr können sie der menschlichen Gemeinschaft auch dazu dienlich sein, sich des Wertes ihrer eigenen Existenz zu vergewissern und sich stets aufs Neue rückzuversichern, wodurch dann ein Zuwachs an Sinn und Bedeutung erfahrbar gemacht wird. Die Schönheit einer Theorie ist folglich nicht deswegen von so großer Bedeutung, damit es für sie dadurch gerechtfertigt wäre einen künstlerischen Status in Anspruch zu nehmen, sondern vielmehr deswegen, weil dem Schönen ein inspirierendes Kraftpotential innewohnt und es in diesem Sinne unser Denken auf außerordentliche Weise zu beflügeln vermag. Und eben dies hat sich die Psychoanalyse seit jeher zunutze zu machen gewusst. Denn die Besonderheit, i.e. das eigentümliche Wesen der Psychoanalyse, manifestiert sich nicht zuletzt auch darin, dass sie nicht selten der Schönheit vor der kausalen Logik den Vorrang gibt, was nun keineswegs lediglich als eine Abwehrstrategie zu verstehen ist. Vielmehr hat es genau dies der Psychoanalyse erst möglich gemacht, sich dasjenige zu bewahren, was sie in ihrem innersten Wesen seit jeher ausmacht und bestimmt: die Qualität des carving in der Qualität des enveloping aufzuheben, das Unheimliche im Vertrauten zu bewahren - sodass das Geheimnis, eben indem es nicht aufgedeckt und offenbart wird, sich letztlich als lebendige Inspirationsquelle und wirklicher Ermöglichungsgrund für jedwede Offenbarung und Erkenntnis erweist.

Literatur
Amir, D. (2016). On the Lyricism of the Mind. New-York & London: Routledge.
Meltzer, D., & Harris-Williams, M. (1988). Die Wahrnehmung von Schönheit. Der ästhetische Konflikt in Entwicklung und Kunst. Tübingen; edition diskord, 2006.
Spence, D. P. (1982). Narrative Truth and Historical Truth. Meaning and Interpretation in Psychoanalysis. New York: WW Norton & Co.
Winnicott, D. W. (1963). Die Frage des Mitteilens und Nicht-Mitteilens führt zu einer Untersuchung gewisser Gegensätze. In: Reifeprozesse und fördernde Umwelt. Gießen. Psychosozial, 2001, S. 234-253.

Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck.
 

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