Das Prinzip Hoffnung in der zeitgenössischen Psychoanalyse.
Jeffrey Sacks, D.O.
Das Prinzip Hoffnung in der zeitgenössischen Psychoanalyse. Paul Ricoeurs interdisziplinäre intersubjektive Synthese
Einleitung
In dem von ihm entwickelten interdisziplinären Modell, in dem Psychoanalyse, Literatur und Philosophie ineinander übergehen, widmet Ricoeur Freuds Gesamtwerk eine grundlegende Untersuchung, wobei er die Weiterentwicklung des zeitgenössischen psychoanalytischen Denkens um 75 Jahre vorwegnimmt. Am Anfang seiner interdisziplinären Investigationen widmet Ricoeur der “Fehlbarkeit des Menschen” (1966) und dem “Willentlichen und Unwillentlichen”(1966) eine philosophische Untersuchung, die im Wesentlichen mit den zentralen Fragen von Freuds wegweisendem disziplinübergreifenden Werk korrespondiert. Diese methodologische und thematische Überlagerung führt schließlich zu Ricoeurs lebenslanger Beschäftigung mit Freuds Werk aus einer philosophisch/linguistischen Perspektive.
Ricoeurs wissenschaftliche Methodologie bietet ganz neue Möglichkeiten dafür, traditionelle Denkmodelle zu hinterfragen und sie mit neuen zeitgemäßen Möglichkeiten zu synthetisieren. Diese neuen Möglichkeiten präfigurieren zeitgenössische klinische Entwicklungen und erlauben eine Transformation von Freuds grundlegenden Ideen einer der Vergangenheit verpflichteten Analyse in eine zukunftsfähige (Summers, 2013) Synthese.
Ricoeurs Werk über Freud
Ricoeur bezeichnete Freud mit seinem Modell von Bewusstsein/Unbewusstsein bekanntermaßen als einen “Meister des Verdachts”, in dem der Mensch als ein unwissendes (un-menschliches) Tier operiert, eingebettet in den Körper und das Unbewusste. Innerhalb dieser Matrix verbergen Symbole die unbegreiflichen, unwissbaren Wahrheiten des Menschen und erst der analytische Prozess ermöglicht dann die Aufdeckung und Enthüllung dieses bislang verborgen und unerkannt gebliebenen Unbekannten.
In Ricoeurs alternativem Modell fungiert die unausweichliche Fehlbarkeit des Menschen als ein neues Paradigma für das Ringen des Menschen mit dem unwissbaren Unwillkürlichen und seinen Symbolen. Diese Fehlbarkeit verweist auf die unausweichliche Verunsicherung, die mit dem unvermeidlichen Scheitern des menschlichen Bestrebens einhergeht, den Sinn und die Bedeutung zu verstehen von unserem letztlich unbegreiflichen, unwissbaren Selbst/dem Anderen/unserer soziokulturellen Matrix. Diese neue Matrix des linguistischen Tiers besagt, dass die Symbole entweder ent- oder aber verbergen. Dieser neue möglichkeitsorientierte kollaborative linguistische Prozess stellt somit eine auf hoffnungsvolles Bewusst- und Gewahrsein hin ausgerichtete Erweiterung dar.
Für Ricoeur (1978) ist die menschliche Person ein bi-personales sprachbegabtes Tier, das eingebettet und eingeschlossen ist in einer ungewissen Multiplizität, die beherrscht wird von der Welt der Sprache, von Symbolen, Interpretationen, Träumen und Metaphern. Der Eindruck wird vermittelt, dass in eben diesem Milieu das sprachbegabte Tier bzw. linguistische Lebewesen in der Vereinzelung zwar am Leben ist, aber dennoch erst im Interagieren mit anderen wirklich zu seiner eigentlichen Bestimmung und Menschlichkeit kommen kann.
Wissen wird nunmehr zu einem interpersonalen Prozess, bei dem die Verunsicherung einer einzelnen Person einen anderen braucht, um stets aufs Neue zu einer vorübergehenden Aufhellung und Klarheit zu gelangen. Dadurch wird die Entwicklung des Bewusstseins von einem der Vergangenheit verhafteten und von ihr beherrschten Prozess zu einem zukunftsweisenden, von Zuversicht und Hoffnung getragenen Geschehen.
Ricoeur untersucht und ergründet das bi-personale sprachbegabte Tier anhand von Metapher, multipler Bedeutung, Zeit und Erzählung (1983), Intersubjektivität, anhand des Selbst als einem Anderen (1992) sowie anhand heilender gegenseitiger Anerkennung (2005).
Über lange Zeit verwarf die Community der Freudianer Ricoeurs sprach-orientierte Semantik des Begehrens mit der Begründung, dass Bedeutung etwas anderes ist als Kausalität, womit sie dem Aufklärungsmodell des 19. Jahrhunderts verpflichtet bleibt. Paradoxerweise hat sich die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts extensiv und intensiv mit Komplexität, Ungewissheit und Wahrscheinlichkeit auseinandergesetzt, was die Wissenschaft dem Diskurs der Sinndeutung oder Probabilität immer mehr angenähert hat und folglich immer weiter weg vom Primat der Kausalität führte.
Korrespondierende klinische Weiterentwicklung
Die klinische Psychoanalyse hat sich in ihrer Weiterentwicklung innerhalb der letzten 50 Jahre immer mehr von der klassischen Psychoanalyse entfernt und ist zu einer Disziplin geworden, die einen interdisziplinären Ansatz priorisiert. Sullivan (1953) und die Interpersonalisten fungierten als Türöffner für die klinische Berücksichtigung von sozialen Umwelteinflüssen sowie von Soziologie, Linguistik und Feldtheorie, womit sie, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, mit Ricoeurs wesentlichen, benachbarte Disziplinen in Betracht ziehenden Modifikationen übereinstimmten. Beide plädieren für diesen linguistischen/ interpersonellen Turn im Sinne der Erkundung der Metapher als der primären Kommunikationsbrücke zwischen dem Selbst und dem Anderen. Die Metapher oder der Fokus auf die Generierung von Sinn verweisen auf eine allmähliche prinzipielle Akzentverschiebung, i.e. eine sukzessive Abwendung vom Körper und dem Unbewussten und stattdessen eine Hinwendung zum linguistischen Zwei-Personen-Prinzip.
Ricoeur verweist auf eine weitere relevante Akzentverschiebung - und zwar weg von der Dominanz unwissbarer Worte (genannt Semiotik) hin zu der Erzeugung von sinnvollen Sätzen (genannt Semantik), womit er der Tatsache Rechnung trägt, dass Menschen und nicht Worte sprechen. Diese wissenschaftliche Humanisierung bzw. intersubjektive interaktive Abhängigkeit ist der nicht-erkannte Ort, an dem die sich weiterentwickelnde zeitgenössische Psychoanalyse und Ricoeurs human-wissenschaftliche Überlegungen zusammentreffen. Infolgedessen kann man sagen, dass sich beide durch ihre Priorisierung des Entstehungsprozesses von Bedeutung – unter Vernachlässigung der Frage wissenschaftlicher Kausalität - von der klassischen Psychoanalyse absetzen.
Intersubjetivistisch ausgerichtete Kliniker wie Levenson (1972, Bromberg (2011), Stem (2019) und Hirsch (2002) sind Wegbereiter für die klinische Weiterentwicklung im Sinne der Integration von Bedeutungsüberschuss (Fehlbarkeit des Verstehens), komplexer Intersubjektivität (multiple Selbstzustände), Ungewissheit des Verstehens (Unvermeidbarkeit von Enactments) sowie die metaphorische interpersonelle Generierung von Bedeutung (ko-kreierende Momente).
Die Freudianische Community hingegen bestand auf der Trennung von Freuds wissenschaftlich inspirierter Metatheorie und humanistisch/linguistisch inspirierter klinischer Theorie. Und so ist Ricoeur bislang weder von der einen noch von der anderen Community in seiner wirklichen Bedeutung erkannt worden.
Ricoeurs Beitrag zur klinischen Weiterentwicklung
Ricoeurs zutiefst von der Philosophie inspiriertes Werk “Das Selbst als ein Anderer” (1990) untersucht das Ineinandergreifen von interpersoneller Erfahrung und menschlicher Entwicklung, was unmittelbar an Sullivans richtungweisenden Ansatz erinnert. In seinem “Wege der Anerkennung” (2006) tastet sich Ricoeur in seinen Überlegungen schließlich behutsam an die in der Klinik gemachten Erfahrungen heran. Dabei verweist er auf das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das Bedürfnis zu kommunizieren und anerkannt zu werden. Außerdem verweist er auf die Bedeutung des mysteriösen Rollentausches als Motor für Veränderung und therapeutische Weiterentwicklung. Er stellt die provozierende Frage in den Raum, ob Verkennen und Abhängigkeit vom Anderen nicht am Ende gar unumgängliche Voraussetzung sind für ein schließliches gegenseitiges Erkennen. Sowohl der Kliniker als auch der Patient befinden sich in einer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander, und sie sind auch beide dazu disponiert, einander gegenseitig zu verletzen (Sacks, 2019).
Es ist eben diese von beiden gemeinsam geteilte Verwundbarkeit, die das Potential für die Entstehung von Möglichkeit und Hoffnung im Rahmen der klinischen Situation in sich birgt. Der klinische Schauplatz bietet sich als ein utopischer Raum geradezu an, befeuert durch produktive Imagination sowie Lust am Erkunden eines gelebten narrativen Prozesses. Dieses Narrativ repräsentiert eine von der Vergangenheit geprägte, im Augenblick generierte und in die Zukunft weisende Synthese. Dieser linguistisch interpersonelle metaphorische und narrative Prozess steht gerade erst im Begriff, von der klinischen Community anerkannt zu werden. Was die Klinik anzubieten hat und verspricht, ist die Generierung eines befreiten Selbst durch eine interpersonelle Synthese - mitsamt der vielversprechenden Chance auf eine Zukunft, wo ethisches Handeln und Leben möglich sind.
Hier zeigt sich, dass die viel-deutigen Interpretationen nicht lediglich ein Indiz für die Fehlbarkeit und Verwundbarkeit des Klinikers sind, sondern sie verweisen vielmehr auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit dem um Sinn und Bedeutung ringenden Patienten. Diese Abhängigkeit vom Anderen bedeutet eine Verschiebung der analytischen Haltung von derjenigen eines Wissenden zu derjenigen eines dankbaren Kooperationspartners, wobei die Zukunft der zeitgenössischen Analyse in einer gemeinsam erschaffenen, auf die Zukunft hin ausgerichteten Synthese liegt. Ricoeurs innovative Paradigmen von gegenseitiger Anerkennung, Rollentausch und intersubjektiver Verwundbarkeit stehen somit für eine neue Ära einer weiterentwickelten, zukünftigen Psychoanalyse.
Literatur
Bromberg, P. (2011). The Shadow of the Tsunami and the Growth of the Relational Mind. New York: Routledge Press.
Hirsch, I. (2002). Beyond interpretation. Contemporary Psychoanalysis, 38, 573-587.
Levenson, E. A. (1972). The Fallacy of Understanding; An Inquiry into the Changing Structure of Psychoanalysis. New York: Basic Books.
Ricoeur, P. (1966). Das Willentliche und das Unwillentliche. München: Fink, 2016.
Ricoeur, P. (1965). Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 1969.
Ricoeur, P. (2006). Wege der Anerkennung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Ricoeur, P. (1983). Zeit und Erzählung. Band 1. München: Fink, 1988.
Ricoeur, P. (1990). Das Selbst als ein Anderer. München: Fink, 1996.
Ricoeur, P. (1978). The metaphorical process as cognition, imagination and feeling. Critical Inquiry, 5:1 Autumn.
Sacks, J. (2019). The unrecognized analyst. In B.Willock, I. Sapountzis, & R. Curtiss (Eds.) Psychoanalytic Propectives on Knowing and Being Known. New York, NY: Routledge.
Sullivan, H. S. (1953). Die interpersonale Theorie der Psychiatrie. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1980.
Stern, D. (2019). The Infinity of the Unsaid. New York, NY: Routledge.
Summers, F. (2013). The Psychoanalytic Vision. New York, NY: Routledge.
Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck.