Träume helfen uns affektive Zustände aufzulösen.
Claudio Colace Ph.D.
Wie die Erforschung der Träume kleiner Kinder uns dabei helfen kann, die Funktion von Träumen besser zu verstehen.
Systematische Untersuchungen aus jüngerer Zeit (Colace, 2010; 2013; 2017; 2021) haben den Nachweis erbracht, dass Freuds ursprüngliche Überlegungen zu Kinderträumen zutreffend waren, weswegen sich Freuds Hypothesen hervorragend dazu eignen, methodisch weiterentwickelt zu werden.
Die Forschungsergebnisse der betreffenden Untersuchungen haben Evidenz dafür geliefert, dass es sich im Fall von Träumen kleiner Kinder in überwiegendem Maße um Wunscherfüllungsträume handelt. Nun lassen sich im Fall von Wunscherfüllungsträumen drei verschiedene modi operandi unterscheiden: Sie fungieren (a) als Kompensation für ein Ereignis vom Vortag, indem diese Träume die Befriedigung eines Wunsches oder einer ersehnten Erfahrung, die während des Tages nicht möglich war, nunmehr im Traum zur Darstellung bringen (i.e. 'Kompensationsträume'); (b) als Fortsetzung eines Tagesereignisses, indem sie die Weiterführung einer ersehnten Erfahrung darstellen, die während des Tages nur teil- oder ansatzweise befriedigt werden konnte (i.e. 'Fortsetzungsträume'); (c) als Antizipation eines Tagesereignisses, indem sie ein schönes Ereignis oder eine erfreuliche Erfahrung, die erst noch irgendwann in der Zukunft zu erwarten ist, im Traum als bereits eingetreten zur Darstellung bringen (i.e. 'Antizipationsträume').
Das Verständnis gewöhnlicher Träume von Erwachsenen ist häufig dadurch erschwert oder verhindert worden, dass man sich vorrangig darum bemüht hat, deren Inhalte zu analysieren und zu verstehen, weswegen entscheidende Fragen - wie die nach der individuellen Bedeutung und Funktion der betreffendenTräume in der Traumforschung und Traumtheorie - vernachlässigt wurden und somit bis heute mehr oder weniger unbeantwortet geblieben sind. Allerdings könnten diese Fragen mit weitaus mehr Aussicht auf Erfolg anhand der einfacheren und verständlicheren Formen von Träumen kleiner Kinder untersucht werden.
Die meisten Wünsche, die in diesen von Kindern geträumten Träumen erfüllt werden, sind auf ein vor kurzem stattgefundenes Erlebnis während des Wachlebens zurückzuführen (d.h., häufig auf irgendein Ereignis am Tag vor dem Traum), welches in der Regel mit einem intensiven Gefühl einherging (wie etwa Freude, Verwunderung, Erregung, Missfallen, Sehnsucht, Bedauern, Ungeduld), das heißt, auf eine emotionale Erfahrung, die im Moment des Erlebens seelisch nicht gänzlich verarbeitet und erledigt werden konnte, wodurch die innere Ordnung gestört und durcheinander gebracht wurde. Durch die Wunscherfüllung leistet der Traum dann jeweils einen entscheidenden Beitrag zur Stressreduzierung und verhilft dem Kind dadurch wiederum zur Regulierung seines emotionalen Haushalts und zur “affektiven Re-etablierung” (Affektive Re-etablierung – AR-Hypothese zur Funktion des Traumes) (Colace, 2010, 2013; 2018; 2021).
So gesehen erfüllen diese Träume die überaus wichtige Funktion, die psychische Gesundheit und seelische Funktionstüchtigkeit sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass das Kind ungestört weiterschlafen kann. Die AR-Hypothese stellt somit eine Bestätigung von Freuds Behauptung dar, dass dem Traum die Funktion der Wunscherfüllung zukommt - und zwar nicht nur um das Weiterschlafen des Kindes zu gewährleisten, sondern vor allem auch um unbewusste Triebreize abzuführen (siehe die Sicherheitsventil-Hypothese von Robert und Freud).
Die AR-Hypothese steht in Übereinstimmung mit dem Affective Network Dysfunction Model (AND) (Nielsen & Levin 2007; Nielsen & Carr, 2017), demzufolge die Träume in der Regel die Regulierung oder 'Tilgung' negativer Emotionen und emotionaler Übererregung ermöglichen, wobei eben dieser Mechanismus im Fall von traumatischen Träumen nachweislich außer Kraft gesetzt bzw. lahmgelegt ist. Des Weiteren steht die AR-Hypothese auch in Einklang mit den vor kurzem durchgeführten Studien über die Funktion des Schlafes, die ergeben haben, dass der Schlaf das im Laufe des Vortags aufgebaute hohe emotionale Stressniveau wieder 'auflösen' hilft und somit bei dem betreffenden Individuum auch einer möglicherweise übersteigerten Emotionalität am darauffolgenden Tag vorbeugend entgegenwirkt (Van der Helm, & Walker, 2009; Van der Helm, Yao, Dutt, et al. 2011).
Untersuchungen von Kinderträumen lassen darauf schließen, dass es sich bei Gefühlen und Wünschen tatsächlich um denjenigen Stoff handelt, aus dem die Träume gemacht sind. Die entsprechenden Forschungsergebnisse stimmen mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse überein, die stets betont hat, welch essentielle Bedeutung den Wünschen, aber auch den während des Wachlebens am Vortag gemachten Erfahrungen für das Zustandekommen der Träume zukommt. Gleichzeitig bestätigen diese Untersuchungen Freuds intuitive Einsicht, dass sich am ehesten anhand der Träume von Kindern seine grundlegende Annahme nachprüfen lässt, die besagt, dass Träume die Erfüllung (oder der Versuch der Erfüllung) eines Wunsches sind (Colace, 2010).
Die Tatsache, dass der hauptsächlichste Motivator und Auslöser für den Traum die Wünsche sind, steht auch in Übereinstimmung mit Mark Solms' neuropsychoanalytischer Fokussierung auf die Aktivierung der motivationalen Systeme beim Träumen (Solms, 1997) und widerspricht all denjenigen Theorien, die die Rolle der Motivationen im Traumprozess vernachlässigen oder gar prinzipiell infrage stellen (zu dieser Debatte siehe: Colace & Boag, 2015; Hobson, 2013).
Daraus wird ersichtlich, dass Kinderträume mit ihren ganz spezifischen Eigenschaften (d.h. ihrer direkten Verbindung zu Tagesereignissen, ihrer Klarheit und Verständlichkeit) einen wirklichen 'Königsweg' darstellen könnten, um die Erforschung der unterschiedlichen Funktionen des Traumes entscheidend voranzubringen.
Literatur
Colace, C. (2010). Children’s Dreams: From Freud’s Observations to Modern Dream Research. New York: Routledge.
Colace, C. (2013). Are wish-fulfilment dreams of children the royal road for looking a the functions of dreams? Neuropsychoanalysis, 15 (2), 161-175
Colace, C. (2017). The early forms of dreaming: A longitudinal single-case study on the dream reports of a child from the age of 4 to the age of 7. Poster presented at The 18th Annual Congress of the International Neuropsychoanalysis Society, London, England Jul 13, 2017 - Jul 15, 2017.
Claudio Colace (2018). L’innesco motivazionale e la funzione affettiva del sogno infantile. In: T. Giacolini, & C. Pirongelli (Eds.), Neuropsicoanalisi dell’Inconscio, (pp. 269-296). Roma, Italy, Alpes Editore.
Colace, C. (2021). The Dreams of a Child. A Case Study in Early Forms of Dreaming. In press (Routledge).
Colace, C., & Boag, S. (2015). Persisting myths surrounding Sigmund Freud’s dream theory: a reply to Hobson’s critique to scientific status of pychoanalysis’, Contemporary Psychoanalysis 51,1, p. 107-125
Hobson, J. A. (2013). Ego ergo sum: Toward a psychodynamic neurology, Contemporary Psychoanalysis, 49(2), 142–164.
Solms, M. (1997). The neuropsychology of dreams: A clinico-anatomical study. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates Publishers.
Nielsen, T. A., & Carr, M. (2017). Nightmares and nightmare function. In M. H. Kryger, T. Roth, & W. C. Dement (Eds.), Principles and practice of sleep medicine (6th ed.) (pp. 546-554). Philadelphia, PA: Elsevier
Nielsen, T. A, & Levin, R. (2007). Nightmares: A new neurocognitive model. Sleep Medicine Reviews, 11, 295–310.
Van der Helm, E., & Walker, M. P. (2009). Overnight therapy? The role of sleep in emotional brain processing. Psychology Bulletin, 135(5), 731–748.
Van der Helm, E., Yao, J., Dutt, S., Rao, V., Saletin, J. M. & Walker, M. P. (2011). REM sleep depotentiates amygdala activity to previous emotional experiences, Current Biology, 21(23), 2029–2032.
Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck.