Der geist in Hamlet
Dr. Eugene J. Mahon
Psychologische Unterwelten und Nachwelten
Nach Loewald ist es unter anderem Ziel und Aufgabe der Analyse, die Geister der Vergangenheit in Vorfahren zu verwandeln. Wenn es im Rahmen der psychonalytischen Behandlung gelingt, die unbewussten, unheimlichen Wiedergänger der Vergangenheit als “Geister” zu begreifen, und sie anschließend zu analysieren und bewusst zu machen, so büßen diese ihre gespenstische und unbewusste Anziehungskraft mehr und mehr ein und verwandeln sich dadurch in Vorfahren, oder mit anderen Worten ausgedrückt, sie sind dann igendwann nurmehr Erinnerungen an die Vergangenheit und müssen nicht länger als zwanghafte, übernatürliche Wiederholungen dieser Vergangenheit erfahren werden. Nun sind allerdings die Geister in der Analyse nicht unser Thema hier. Was ich vielmehr in diesem Beitrag untersuchen und detailliert erörtern möchte. ist Shakespeares Verwendung von Geistern als ein ästhetisches Mittel, was zu dem Zweck eingesetzt wird, die psychologische Tiefendimension in seinen Theaterstücken entsprechend spürbar und nachvollziehbar werden zu lassen. Auch wenn tatsächlich in fünf von Shakespeares Theaterstücken (Hamlet, Julius Caesar, Macbeth, Richard der Dritte, Cymbeline) Geister vorkommen, so unterscheidet sich dennoch der Geist in Hamlet ganz wesentlich von den Geistern in Shakespeares anderen Stücken, ist er doch am meisten ausgearbeitet und trägt alle Züge eines voll entwickelten Charakters, der die dramatische Handlung vorantreibt und nicht lediglich eine übernatürliche vorübergehende und flüchtige Erscheinung darstellt, die nur die Funktion hat zu schockieren, um dann gleich wieder zu verschwinden und nicht wieder aufzutauchen. Ich würde sogar die Behauptung wagen, dass auch ohne die tatsächliche Anwesenheit des Geistes auf der Bühne die Realität der Abwesenheit von Hamlets Vater nichtsdestotrotz während des ganzen Stückes über spürbar wäre, und zwar im Sinne von “Abwesenheit als die höchste Form der Anwesenheit”, wie es Jame Joyce im 'Porträt des Künstlers' proklamierte. Ich habe an anderer Stelle (Mahon 1998) darauf aufmerksam gemacht, dass Hamlet in seinem ersten Monolog ein höchst erstaunlicher, verblüffender Versprecher unterläuft, wo er zuerst von seinem Vater behauptet, dass der “zwei Mond' erst tot” ist, sich dann aber sogleich selber korrigiert: “nein, nicht so viel, nicht zwei” (Hamlet, Akt 1, Szene 2, Zeile 138). Ich behaupte, mit dieser Fehlleistung hat Shakespeare das Unbewusste von Hamlet ins Stück eingeführt, wo ihm dann im weiteren Verlauf eine für die dramatische Handlung entscheidende Rolle zukommt, um die psychologische Handlung voranzutreiben (oder je nach dem auch aufzuhalten bzw. zu entschleunigen). So gesehen, könnte man durchaus behaupten, dass hier das Unbewusste nichts anderes als den Geist all dessen repräsentiert, was die Verdrängung in der psychologischen Unterwelt verborgen hält.
Das bisher Gesagte spricht in gewisser Weise dafür, dass der Umstand, dass im Theaterstück ein Geist vorkommt, eine ganz ähnliche Funktion erfüllt wie die gespenstische Fehlleistung Hamlets, d. h. sein unheimlicher Freudscher Versprecher, denn ganz gleich ob nun Shakespeare an Geister “glaubte” oder nicht, so darf man dennoch behaupten, dass er diese spezielle Art von Re-Präsentation von Hamlets Vater als Geistererscheinung auf der Bühne dazu verwendet hat, das innere Chaos des dramatischen psychologischen Konflikts, mit dem der tragische Held auf der Bühne zu kämpfen hat, zur Darstellung zu bringen. Als der Geist in Akt 3, Szene 4 zum letzten Mal in Erscheinung tritt, ahnt Hamlet intuitiv, was es mit der übernatürlichen Erscheinung auf sich hat, ja man könnte auch sagen, er errät und antizipiert das Motiv für das Erscheinen des Geistes:
Hamlet: “Kommt Ihr nicht, Euren trägen Sohn zu schelten?” [“Do you not come your tardy son to chide?”] Man könnte sogar argumentieren, dass der Geist genau genommen zwei Motive hat, nämlich nicht nur Hamlet zu gemahnen: “Vergiss nicht! Diese Heimsuchung / soll nur den abgestumpften Vorsatz schärfen”, [“Do not forget. This visitation / Is but to whet thy almost blunted purpose”], sondern auch Hamlet zu ermutigen Gertrude zu helfen:
Geist: “Doch schau! Entsetzen liegt auf deiner Mutter; / Tritt zwischen sie und ihre Seel' im Kampf, / In Schwachen wirkt die Einbildung am stärksten: / Sprich mit ihr, Hamlet!” [“But look, amazement on thy mother sits. / O step between her and her fighting soul. / Conceit in weakest bodies strongest works. / Speak to her, Hamlet.”]
Die Tatsache, dass der Geist just in diesem Moment im Stück in Erscheinung tritt, erhöht noch die Dramatik des Konflikts, welcher sich bereits zwei Szenen zuvor in Akt 2, Szene 2, abzuzeichnen begonnen hatte, in dem Moment nämlich, als Hamlet im Zuge der Inszenierung des Schauspiels im Schauspiel sich durch Claudius’s schuldbewusste Reaktion schließlich selbst von dessen Schuld überzeugt hatte, und somit also wusste, dass der Geist nicht gelogen hatte, als er Claudius des Mordes an Hamlets Vater für schuldig erklärte. Und so ruft Hamlet schließlich gegenüber Horatio aus: “O lieber Horatio, ich wette Tausende auf das Wort des Geistes.” [“I’ll take the ghost’s word for a thousand pounds.”] (Akt 3, Szene 2). Obgleich nun also Hamlet keinen Zweifel mehr an der Schuld seines Stiefvaters hat, so befindet er sich dennoch nach wie vor in einem schweren inneren Konflikt, als ihn seine Mutter zu sich rufen lässt. Wir werden Zeuge von einem Hamlet, der regelrecht manisch ist, während er seinen Monolog hält, und worin sich vor allem auch seine Ambivalenz wirkungsvoll Ausdruck verschafft:
Nun tränk' ich wohl heiß Blut
Und täte Dinge, die der bittre Tag
Mit Schaudern säh'. Still! jetzt zu meiner Mutter.
O Herz, vergiß nicht die Natur! Nie dränge
Sich Neros Seel' in diesen festen Busen!
Grausam, nicht unnatürlich laß mich sein;
Nur reden will ich Dolche, keine brauchen.
(Akt 3, Szene 2, Zeile 379 – 387).
(Übersetzung: A. W. Schlegel)
[Now could I drink hot blood,
And do such bitter business as the day
Would quake to look on. Soft, now to my mother.
O heart, lose not thy nature. Let not ever
The soul of Nero enter this firm bosom;
Let me be cruel, not unnatural.
I will speak daggers to her, but use none.]
Hamlet ist bereit, den Rat des Geistes zu beherzigen, den dieser ihm in Akt 1, Szene 5, gegeben hatte.
Geist:
Befleck' dein Herz nicht; dein Gemüt ersinne
Nichts gegen deine Mutter; überlaß sie
Dem Himmel und den Dornen, die im Busen
Ihr stechend wohnen.
(Akt 1, Szene 5, Zeile 85 - 88)
[Taint not thy mind nor let thy soul contrive
Against thy mother aught. Leave her to heaven,
And to those thorns that in her bosom lodge
To prick and sting her.]
Hamlet gedenkt demzufolge, seiner Mutter ausschließlich verbale Dolchstiche zuzufügen, und er will keinesfalls einen wirklichen Dolch gebrauchen, werden doch ihre Gewissensbisse ihr ohnehin unerbittlich “stechend im Busen wohnen” bis zuletzt. Aber natürlich fühlt sich auch Hamlet von Gefühlen der Schuld heimgesucht und verfolgt, so dass ihm immer wieder der Gedanke im Kopf herum geht, sich “selbst zu entleiben” und sich ins Jenseits zu befördern “mit einer Nadel bloß”, wie er selber sagt. Das Dilemma besteht also darin, dass Hamlet einerseits seinem Vater gegenüber der gehorsame Sohn sein muss, und dass er trotzdem gleichzeitig auch seiner Mutter seine wahren Empfindungen nicht vorenthalten darf. Diese Situation stellt in gewisser Weise eine negative ödipale Lösung dar, was vielleicht die Funktion erfüllt, das eher positive ödipale Drama, worauf der zuvor erwähnte Versprecher immerhin ein deutlicher Hinweis ist, zu verbergen und zu verschleiern. Man könnte sagen, die Fehlleistung offenbart einen verborgenen unbewussten Wunsch, denn wenn der Zeitpunkt der Ermordung des Vaters in Hamlets Vorstellung tatsächlich einen Monat früher stattgefunden hat als das von Claudius tatsächlich verübte Verbrechen, dann kann infolgedessen der Verantwortliche für die mörderische Tat kein anderer gewesen sein als Hamlets Unbewusstes. Dies wiederum könnte uns durchaus den Eindruck vermitteln, als ob die Handlung des Stücks möglicherweise lediglich das wiedergibt bzw. wiederspiegelt, was sich in Hamlets Kopf abspielt, anders ausgedrückt, man könnte sich fragen, ob das eigentliche Schauspiel lediglich eine Verschiebung eines inneren psychologischen Dramas darstellt. Natürlich ist dies in gewisser Weise überspitzt ausgedrückt, aber um eine dramatische Inszenierung eines interaktiven Dialogs überhaupt möglich zu machen, hat Shakespeare im Fall von Hamlet zu einem höchst wirksamen Mittel gegriffen, das heißt: der Geist als reale und konkrete Manifestation eines privaten inneren Konflikts, der, um in irgendeiner Weise fassbar und nachvollziehbar gemacht zu werden, der öffentlichen Re-Präsentation außerhalb der Bühne des individuellen Bewusstseins bedarf. In jedem Fall ist es Shakespeares Genie gelungen unter Zuhilfenahme von sieben Monologen und einer Reihe von subtilen Fehlleistungen (Mahon 1998, 2000) uns als Zuschauer bzw. Leser zu suggerieren und davon zu überzeugen, dass für die Handlung des Schauspiels das Unbewusste von Hamlet unentbehrlich ist und es mithin ein ebenso vollwertiger Darsteller im Stück zu sein beansprucht wie die übrigen auftretenden dramatis personae auch, die “spreizen und knirschen ihr Stündchen auf der Bühn” [“strut and fret their hour upon the stage”.)
Als dann der Geist Hamlet ein Zeichen gibt, er solle ihm folgen, und als daraufhin Horatio und seine Kameraden ihn aufzuhalten versuchen, weist Hamlet sie brüsk von sich mit den Worten: “den mach' ich zum Gespenst, der mich zurückhält!” Dies heißt ja nunmehr nichts anderes, als dass seine Kameraden, im Fall, dass Hamlet sie töten würde, fortan als Gespenster weiter existieren würden. Zweifelsohne ist es das Bewusstsein des Menschen von seiner eigenen Sterblichkeit, was die Erfindung von Geistern notwendig, ja geradezu unentbehrlich gemacht hat, wenn man bedenkt, dass das menschliche Bewusstsein seit jeher verzweifelt versucht, mit der mit der Sterblichkeit verbundenen schrecklichen narzisstischen Kränkung irgendwie zurecht zu kommen und sich mehr schlecht als recht damit zu arrangieren. Wäre nämlich der Mensch unsterblich, dann würde sich uns die Frage, ob wir nach unserem Tod als Geister weiter existieren oder nicht, gar nicht erst stellen. In meinem Aufsatz 'The Invention of Purgatory' [Die Erfindung des Fegefeuers] (Mahon 2007) habe ich die Behauptung aufgestellt, dass, nachdem der Protestantismus die katholische Vorstellung vom Fegefeuer abgeschafft hatte, die so verbannten Geister und Seelen, die dann zunächst einmal ihren Auftritt vorübergehend auf der Bühne des Elisabethanischen Theaters feierten (Greenblatt 2001), schließlich auf der psychoanalytischen Couch in Wien landeten, und zwar herbeizitiert von Sigmund Freud, der aufgrund seiner aufgeklärteren Auffassung von der Funktion des Schuldgefühls im menschlichen Bewusstsein die alten Vorstellungen von Hölle und Fegefeuer durch ganz neue Vorstellungen und Denkmodelle ersetzte. Es gab jedenfalls bereits in der neuen protestantischen Definition von Ewigkeit und vom Leben nach dem Tode keinen Platz mehr für die Seelen. Allerdings waren die unbewussten Todeswünsche des Menschen gegenüber geliebten Personen trotz Gesetzesvorschriften von Seiten des Staates bzw. des Königs und von Seiten der Institution Kirche deswegen noch lange nicht aus der Welt geschafft. Mit Seelen öffentlich Geschäfte zu machen und Handel zu treiben, das konnte zwar von Gesetzes wegen verboten werden, was aber nicht verboten werden konnte, war der ganz individuelle und private Umgang mit Verdrängung und Projektion von Schuld und ihre in ganz unterschiedlichen, bisweilen unheimlichen und bedrohlichen Formen auftretenden Manifestationen.
”Glaubt” Hamlet nun an Geister oder nicht? Shakespeare lässt diese Frage offensichtlich unbeantwortet und in der Schwebe. In seinem “Sein oder Nichtsein” Monolog lässt Shakespeare Hamlet auf “die Furcht vor etwas nach dem Tod” als “das unentdeckte Land, von des Bezirk / Kein Wandrer wiederkehrt” zu sprechen kommen. Diese von Hamlet geäußerten Worte legen unmissverständlich nahe, dass der Tod unwiderruflich und endgültig ist: sobald er einmal tot ist, “kein Wandrer wiederkehrt” von dort. Hamlet, der in seinen ihn peinigenden Selbstzweifeln hin und her gerissen wird, erwägt allerdings in dem selben Monolog zwei ganz unterschiedliche Szenarien nach dem Tod: “Sterben – schlafen - / Nichts weiter!” und dann wieder: “ Sterben – schlafen / Schlafen! Vielleicht auch träumen!” Es scheint so, als stünden sich hier ein atheistisches und ein religiöses Motiv unvereinbar gegenüber. “Was für Träume kommen mögen”, fragt sich Hamlet an einer bestimmten Stelle des Monologs, ”wenn wir den Drang des Ird'schen abgeschüttelt.” Der Begriff “Traum” wird von Hamlet hier wohlgemerkt nicht im Sinne von Freud verwendet, der den Traum als eine temporäre nächtliche Halluzination begreift, wo die “Geister” im Dienste der Traumarbeit den Schläfer mit allerlei Tricks und Täuschungsmanövern verlocken und in die Irre führen, damit die latente Botschaft des Traums möglichst nicht in Erscheinung tritt, sondern im Verborgenen bleibt. Nein, man kann wohl berechtigterweise sagen, dass die Ahnung, die Hamlet von “Träumen, die nach [dem Tode] kommen mögen” hat, für ihn wie eine aus einer übernatürlichen Sphäre herkommende Warnung anmuten, “von des Gedankens Blässe angekränkelt”, “die den Willen verwirrt”, und “Feige aus uns allen macht”, mit dem Resultat, dass “Unternehmungen voll Mark und Nachdruck “ “verlieren so der Handlung Namen”. Nun, ich denke, mit was wir uns hier konfrontiert sehen, ist letztlich nichts anderes als Kastrationsangst, die hier in Shakespeares Stück durchgespielt wird, und zwar in einer quasi übersinnlichen bzw. übernatürlichen Tonart in den “Unternehmungen voll Mark und Nachdruck”, wie es bei Shakespeare heißt, welche allerdings, wenn wir das Phänomen von einer anderen, nicht-übernatürlichen Perspektive her betrachten, bereits vor dem Tode im Laufe unseres gesamten Lebens in den “natürlichen” imaginativen Fiktionen der Neurose auf einer unbewussten Ebene permanent und immer wieder von Neuem durchlebt und erlebt werden. Was ich als “die natürlichen imaginativen Fiktionen der Neurose” bezeichnet habe, sind letztlich nichts anderes als zutiefst intime und private Erfahrungen, die dann die ars poetica, man könnte sagen, aus einer inneren Notwendigkeit heraus auf die Bühne bzw. zu Papier bringt und somit öffentlich macht, wobei dann diese ars poetica gegebenenfalls auch Geister auftreten lässt, um mit ihrer Hilfe den Konflikt in all seinen Verschiebungen und Projektionen allererst zur Darstellung zu bringen in jener, wie Coleridge es nannte, “freiwilligen Suspendierung der eigenen Ungläubigkeit, die den poetischen Glauben charakterisiert” (Coleridge 1817). Also einerseits beruft sich Hamlet in seinem Monolog auf die 'Träume nach dem Tode', aber andererseits begreift er den Tod auch als “das unentdeckte Land, von des Bezirk / kein Wandrer wiederkehrt”. Und trotzdem ist ihm der Geist seines Vaters, ein “Wandrer aus diesem unentdeckten Land”, erschienen! Was die das Herz und den Verstand quälenden psychologischen Angelegenheiten angeht, so müssen wir als Mensch solche Widersprüche als da wären: Trieb und Vernunft, Illusion und Wirklichkeit, irgendwie in uns unterbringen und vereinen, während sie sich doch in Wirklichkeit auf immer in einem scheinbar unlösbaren Konflikt unversöhnlich und unvereinbar gegenüberstehen. Als beispielsweise Horatio den Geist zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, ruft er aus: “Steh, Phantom!” [“Stay, illusion!”] Dabei scheint es fast so, als würde er ahnen oder intuitiv erfassen, dass er soeben im Begriff steht, eine rationale Unterhaltung mit dem Irrationalen zu führen, und dass es in der Tat “mehr Ding' im Himmel und auf Erden” gibt, als die Schulweisheit “sich träumt”. Man kann sagen, dass der Dialog zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen einer der genialsten dramatischen Kunstgriffe ist, die Shakespeare anwendet, um die unheimliche und gespenstische Atmosphäre und die damit verbundene Spannung im Stück ins schier Unermessliche und Unerträgliche zu steigern. Selbst am Ende seines “Sein oder Nichtsein” Monologs, als Hamlet schließlich Ophelia erblickt und sie anspricht:” Nymphe, schließ / In dein Gebet all meine Sünden ein”, [“Nymph, in thy orizons be all my sins remembered”] hat es den Anschein, als ob er sie mehr als einen mythologischen Geist erlebt und anschaut, und eben nicht als die Frau aus Fleisch und Blut, die er einstens kannte und geliebt hat. Auch hier an dieser Stelle scheint Shakespeare den Konflikt beleuchten und herausstellen zu wollen, der für uns Menschen unweigerlich existiert zwischen der Realität (Liebe als “eine Unternehmung voll Mark und Nachdruck”) und der Flucht vor der Realität in die Lieblosigkeit des bloß Phantastischen. Aber natürlich ist es so, wenn sich ein Freudscher Hamlet fortwährend den Kopf zermartert über und wegen seiner aus seinen vatermörderischen und inzestuösen Wünschen erwachsenden Schuld, dann besteht eine der Möglichkeiten dem Abhilfe zu schaffen darin, sich an das Übernatürliche, d. h. an die Nymphe, zu wenden, deren Gebete und Fürbitten ihn doch gnädigerweise von seinen Schuldgefühlen (seinen Sünden) befreien möchten.
Es mag nun durchaus naheliegend und folgerichtig erscheinen in diesem Zusammenhang zu vermuten, dass Sakespeares eigene “Sünden” (bzw. Gefühle von Schuld) die eigentliche kreative Antriebskraft hinter diesem außergewöhnlichen Theaterstück sind. Ich habe in einem Aufsatz aus dem Jahr 2009, in dem ich eingehend über Trauer und Kreativität nachgedacht habe, argumentiert, dass der Tod von Hamnet, der Shakespeares einziger Sohn und gleichzeitig auch ein Zwilling war, in der Sprache des Stücks an verschiedenen Stellen immer wieder “spürbar” und erlebbar wird, und zwar vor allem da, wo ein Doppelausdruck (i. e. ein Hendiadyoin, was soviel bedeutet wie eine rhetorische Figur zweier gleichbedeutender Substantive oder Verben, die nur zur Verstärkung der Ausdruckskraft verwendet werden) oder irgend eine andere Form von Verdoppelung im Text vorkommt. Es vermittelt sich einem als Theaterbesucher fast der Eindruck, als würde der Geist des Jungen, Hamnet, neben dem erwachsenen Hamlet mit auf der Bühne stehen. Es gibt da im Stück auch noch ein anderes, durchaus ironisches Moment, das, seitdem James Joce im 'Ulysses' erstmals darauf aufmerksam gemacht hatte, immer wieder zu ganz unterschiedlichen Spekulationen und Kommentaren Anlass gegeben hat: Eine der Mutmaßungen war die, dass Shakespeare möglicherweise selbst neben Richard Burbage als Hamlet die Rolle des Geistes auf der Bühne gespielt hat, und dass er, Sakespeare, der nach dem Tod seines Sohnes im Jahr 1596 nie mehr mit diesem hatte reden können, es dann doch noch vermocht hatte, allerdings nur auf dem Umweg der dramatischen Illusion in seiner Rolle als Geist-Vater, mit seinem Sohn zu sprechen. Die Ironie wird zusätzlich noch durch ein kleineres Textdetail in Akt 1, Szene 5, verstärkt, wo Hamlet seine Kameraden schwören lässt, dass sie die Erscheinung des Geistes als Geheimnis für sich behalten, woraufhin dann der Geist selber von unterhalb der Bühne prompt hervor ruft: “Schwöret.” Hamlet, der direkt und unmittelbar auf den schwarzen Humor des Geistes eingeht, zieht nach und ruft: “Ha, ha, Bursch! Sagst du das? Bist du da, Grundehrlich?/ Wohlan – ihr hört im Keller den Gesellen -/ Bequemet euch zu schwören.” [“Ah ha, boy, say’st thou so? Art thou there, truepenny? Come on, you hear this fellow in the cellarage. Consent to swear.”] Das meiner Ansicht nach mehr als bemerkenswerte Detail, das ich hier in diesem kurzen schaurig gespenstischen Austausch mit dem Geist im Auge habe, und auf das ich besonders hinweisen möchte, ist diejenige Stelle, wo Hamlet den Geist mit “Bursch” anspricht, und die bei einem sich in erwartungsvoller Anspannung befindlichen Publikum auch prompt so gut wie jedes Mal Lachen hervorruft. Man kann sich hier, wie ich finde, durchaus berechtigterweise die Frage stellen, ob diese Textstelle nicht ein versteckter bzw. indirekter Hinweis ist auf den kleinen Hamnet und auf den mit dem Tod des Jungen verbundenen tragischen Verlust, den Shakespeare seinerzeit erleiden musste. Wenn es nämlich zutrifft, dass Abwesenheit tatsächlich die höchste Form der Anwesenheit ist, so kann man sich durchaus fragen, ob nicht die geisterhafte Abwesenheit dieses Kindes namens Hamnet eine konstante Anwesenheit in den Gedanken und im Bewusstsein des hinterbliebenen Vaters namens William Shakespeare war? Die Frage, ob es nun Shakespeare zu seinen Lebzeiten gelungen ist, die geisterhafte Anwesenheit von Hamnet in einen im psychoanalytischen Sinne verstandenen Vorfahren zu verwandeln, wird letztlich wohl unbeantwortet bleiben. Doch wenn wir einmal annehmen, dass die Sublimierungen eines Genies, wie Shakespeare unbestritten eines war, in gewisser Hinsicht vergleichbar sind mit den im Laufe einer persönlichen Analyse gemachten Erfahungen, dann läge es doch immerhin im Bereich des Vorstellbaren, dass Shakespeare genau das durch seine poetisch schriftstellerische Arbeit gelungen ist. Ich denke, zumindest ist und war dies der Wunschgedanke von Generationen von Lesern und Theaterbesuchern, die von Shakespeares Einsichten in Erstaunen und Verwunderung versetzt wurden und die dadurch, dass sie an diesen Einsichten teilhaben durften, ihr Menschsein häufig auf eine zutiefst bewegende Weise stärker und intensiver empfunden haben, als wenn es Shakespeare und sein Werk nicht gegeben hätte.
Literatur:
Coleridge, S. T. (1817): Biographia Literaria. London: Dent, 1965.
Greenblatt, S. (2001): Hamlet im Fegefeuer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008.
Mahon, E. J. (2000): Parapraxes in the plays of Shakespeare. Psychoanalytic Study of the Child 55: 335 - 370.
Mahon, E. J. (2007): A pun in a dream. Psychoanalytic Quarterly 76 (4): 1367 - 73.
Mahon, E. J. (2009): The death of Hamnet: an essay on grief and creativity. Psychoanalytic Quarterly 78(2): 425 - 64.
Shakespeare, W. (1601 / 1602): Hamlet. Prinz von Dänemark. (Übersetzung: August Wilhelm Schlegel.) Berlin: Der Tempel-Verlag (o. J).
Aus dem Englischen übersetzt von M. A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck, Nürtingen am Neckar.