Auch wenn Freud in ‘Die endliche und die unendliche Analyse’ das Regieren, das Erziehen und das Analysieren allesamt als ‘unmögliche Berufe’
[1] bezeichnet, denen menschliche Interaktion gemeinsam ist, so sind Politik und Psychoanalyse doch verschieden. In der Abgeschlossenheit des analytischen Raums wird das Ausagieren verweigert, während Handeln und Entscheiden dem Grundsatz der Politik angehören. Hier das intime und durch die absolute Vertraulichkeit geschützte Wort, dort das öffentliche Wort, das überzeugen will. In der Analyse wird Abstand genommen von einem anklagenden oder spaltenden Urteil, während dieses in der Politik eingesetzt wird, um das eigene Tun zu legitimieren.
Und doch: trotz der Besonderheit seines Berufs steht der Psychoanalytiker auch mitten im Leben seiner Stadt und seines Landes, und die analytische Praxis sieht sich in Diktaturen und Überwachungsstaaten behindert oder verhindert, ja, gefährdet sogar den, der sie ausübt. Wenn man bedenkt, dass die Politik ein Konfliktfeld ist, auf dem Triebkräfte entfesselt werden, wenn man weiter bedenkt, dass das Wort des Psychoanalytikers nicht ideologisch ‘neutral’ ist, sobald es öffentlich gesprochen wird (vor allem dann nicht, wenn es riskanten Interpretationen unterworfen wird!), kann man nur unterstreichen, dass Psychoanalyse und Politik ‘in einem Spannungsfeld" stehen, wie es der Titel von Lise Demaillys Buch
[2] andeutet, auch wenn zuzugestehen ist, dass ‘die Psychoanalytiker ihren Teil zum gemeinsamen Bemühen beitragen müssen, die gegenwärtige Lage zu denken, ihre Gefährlichkeit zu denken’
[3].
Freud tat das in seinem Brief an Albert Einstein (‘Warum Krieg?’) und in den Reflexionen, die er zuvor in ‘Massenpsychologie und Ich-Analyse’ und
Das Unbehagen in der Kultur entwickelt hatte, sowie mit seinem vorsichtigen Urteil über den Kommunismus. Unter den zahlreichen Psychoanalytikern, die ihm auf diesem Weg folgten, darunter Jean-Claude Stoloff, der in einem kürzlich erschienenen Buch
[4] unterstreicht, wie fruchtbar eine gemeinsame Betrachtung von seelischem Konflikt und demokratischer Debatte ist, versuchen die meisten, zu erkunden, wie sich die zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts (die Schoah und andere Genozide) auf das analytische Denken auswirkten, das von der Politik erfasst wurde und sich plötzlich unverhüllt der Selbstzerstörung gegenübersah, die dem ‘Humanen’ innewohnt.
Die heutige psychoanalytische Reflexion über Politik stützt sich also auf eine Verantwortung, die in Situationen übernommen wurde, in denen körperliches und geistiges Leid, reale oder symbolische Gewalt massiv präsent waren. In der Inhaltsübersicht der 30. Jahrestagung der Europäischen Psychoanalytischen Föderation (Den Haag, April 2017), deren Thema ‘das Eigene und das Fremde’ war, konnte man lesen:
Wir wählten dieses Thema, weil das heutige Europa in einem sehr kurzen Zeitraum seiner Geschichte sich vor ungeheuren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Herausforderungen sieht, die ein hohes Konfliktpotential in sich tragen und die bisher bekannten gesellschaftlichen Strukturen in Frage stellen.
Eine dieser politischen und kulturellen Herausforderungen ist der Begriff der Identität, der Beunruhigung und leidenschaftliche Konflikte auslöst und auch politische Entscheidungen und Weichenstellungen nach sich zieht, deren legistischer Niederschlag den gesellschaftlichen Raum verändert. Tatsächlich müssen politische Entscheidungen getroffen werden, um die Migrationsströme zu regulieren oder um die Menschenrechte der ‘Migranten’ zu schützen, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen, das zu einem riesigen Seegrab geworden ist ….
‘Identität in der Krise’ oder ‘Kampf um Anerkennung der Identität’, bedrohte Grenzen und bedrohtes ‘Zuhause’, Ängste vor Verlust der kulturellen Identität, während es doch die ‘Radikalisierung’ ist, von der die Gefahr ausgeht, Sorge um den laizistischen Staat, wenn sich religiöse Fundamentalismen verbreiten: Rückzüge und Brüche bedrohen die Möglichkeit eines ‘Zusammenlebens’. Die Wahlen werden, wie es heißt, durch eine ‘Identitätsfalle’ bedroht, die die alten politischen Gegensätze zuspitzt. In Frankreich gab es einige Zeit lang sogar ein Ministerium für nationale Identität! Und die Angst vor dem Verlust von Identität und Zugehörigkeit gipfelt bisweilen sogar in der Formulierung der Phantasie eines ‘großen Austauschs’.
Was also bezeichnet Identität? Das allgegenwärtige Wort wurde zum Slogan in politischen Konfrontationen, wobei es die Natur oder Realität des Bezeichneten verschleiert. Noch eine Sache der Wörter: ‘Separatismus’ gesellt sich heute zu ‘Kommunitarismus’. Die Identitätszugehörigkeit betrifft mittlerweile auch die ‘Zuschreibung’ von Genus und Sexus. Die Frage der Identität in der aktuellen Politik thematisiert die Beziehung zum anderen, die Beziehung zum Fremden, den eventuellen Ausschluss des Anderen und Fremden durch geeignete Verteidigungsmaßnahmen.
Der politisch und sozial bestimmte Begriff der Identität kann jedoch nicht betrachtet werden, ohne den Blick, wenn auch allzu rasch, über jene Disziplinen schweifen zu lassen, die diesen Begriff zu erforschen versuchen. Um die Unschärfe des Konzepts der Identität und um den unergründlichen Gebrauch des Wortes ‘Identität’ geht es in der scharfen Analyse von Vincent Descombes, der in
Les embarras de l'identité[5] die Frage ‘Wer bin ich?’ behandelt. Die linguistische Analyse dessen, was das Wort ‘Identität’ bezeichnet, hat jedoch den polemischen Gebrauch dieses Wortes nicht unterbunden und hat auch die affektive und psychopathologische Ladung, die dieses Wort bisweilen trägt, nicht entschärft: das, was manche ‘Identitätsobsession’ nennen und was Alain Finkielkraut "unglückliche Identität’
[6] nennt. Der Philosoph François Julien versichert, es gebe keine kulturelle Identität, der Demograph Hervé Le Bras skizziert wiederum die notwendigerweise von verschiedenen Gruppen geprägte Geschichte einer Nation. Nathalie Heinich
[7] nimmt eine soziologische Perspektive ein, und der Archäologe und Prähistoriker Jean-Pierre Demoule
[8] hinterfragt wiederum den Mythos unserer indoeuropäischen Ursprünge.
Was kann die Psychoanalyse an der Seite der genannten Disziplinen dazu beitragen, um, ausgehend von der Intimität des Subjekts, den Begriff der Identität im politischen Bereich zu erhellen, wo dieser zum Ausdruck und bisweilen zum Ausbruch kommt? Wir wollen zunächst anmerken, wie selten Freud ‘Identität’ als Wort oder Begriff verwendet, wohl weil dieser Begriff allzu rasch auf das Reich und die Psychologie des Ich oder des ‘Selbst" indiziert wird. Von genau dieser Seite kommend, hat sich der Bezug zur Identität in der angelsächsischen Psychoanalyse etabliert, mit Erik Erikson und seinen Überlegungen zu ‘Identitätskrisen’.
Doch dieser Beitrag muss in die anthropologische Perspektive gestellt werden, die in Freuds Werk immer präsent ist, besonders in seinem Nachsinnen über ‘Das Unbehagen in der Kultur’, wo die psychischen Kräfte der Bindung, jene des Eros und der Identifikationen, den Kräften der entfesselten Zerstörungstriebe gegenüberstehen. Bei Freud beruht die Vision eines ‘menschlichen Wesens’, das sich von der religiösen Illusion löst, das seine Wahrheit, wenn nicht seine Identität, aber aus einem ‘ursprünglichen’ Erbe zieht, auf der wiederholt, ganz besonders in ‘Konstruktionen in der Analyse", vorgebrachten Hypothese, dass man die Menschheit als Ganzes packen und sie an die Stelle des menschlichen Individuums stellen könne
[9]. Da die Identität in der Subjektivität wurzelt, verweist sie nach Freud auf dies Ursprüngliche, das unvergänglich ist und sich ständig verwandelt.
Aber die Identität trägt das Schicksal dessen, was zum Ähnlichen und Identischen drängt, wenn es um Erkennen und Erkannt-Werden geht, aber auch um das Wiedererleben der Befriedigung: mit dem Paar ‘Identität des Denkens’ und ‘Identität der Wahrnehmung’ werden hierfür die Primär- und Sekundärprozesse aktiv. Und der Identifikationsprozess tritt in der Identitätssuche hervor. Wie in ‘Massenpsychologie und Ich-Analyse’ erläutert, wendet sich das psychoanalytische Denken der Politik zu, um zu untersuchen, welche Züge der Identifizierung die Anhänger, im Falle der Liebe oder der Masse, an das Ich-Ideal und an den Führer binden. Aber das Identitätsmerkmal, das das Zusammenleben fördert, kann ebenso vereinen wie ausschließen, wenn es sich auflöst in Hass oder im Ausschluss des Anderen, des Fremden: Rassismus und nationalsozialistische Ideologie, diese unverdünnten Kulturen der Identität und des Todestriebs, erbrachten hierfür den traurigen Beweis.
Die psychische Arbeit am Konflikt der Identifizierungen, eine ebenso analytische wie kulturelle Arbeit, ist durchaus eine Auseinandersetzung mit dem Identitätsbegriff: es wird unterschieden zwischen Identischem und Einzigartigem, zwischen kollektiver Zugehörigkeit und Individuum, während sich die Vielheit einer ‘psychischen Persönlichkeit’ mit ihren verschwommenen Grenzen und den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die sie zusammensetzen, erkennt. So muss die Identität in der Analyse immer in ihre Bestandteile zerlegt werden: dies ist jedoch ein heikler Vorgang, wenn man dabei auf ein unsicheres Existenzgefühl oder auf die Erfahrung der Hilflosigkeit stößt. Die Klinik der Borderline-Störungen oder der ‘narzisstischen Identitätsstörungen’, in denen es vorrangig um Fragen des Narzissmus und der Ich-Grenzen geht, und damit um Fragen nach der Beziehung zum Anderen und zum Fremden (wie es Nathalie Zilkha in
L'altérité révélatrice[10] schildert), erhellen vielleicht, was Situationen sozialer Hilflosigkeit und die daraus erwachsenen Ansprüche nach Anerkennung der Identität der Politik aufdrängen. Laurence Kahn stellt diese Hypothese jedenfalls auf:
Ich frage mich, ob das Interesse der Psychoanalyse für therapeutische Probleme, die mit Identitätsschwächen verbunden sind, nicht in gewissem Ausmaß als Symptom unserer derzeitigen kulturellen Krankheit zu betrachten ist … Auf der kulturellen Ebene, in der Kulturgeschichte der Gegenwart, gab es die Stichflamme einer unfassbaren Vernichtung, was auch dem Identitätsbegriff Schaden zufügte.[11]
Was die Psychoanalyse zum Verständnis der heutigen Politik in Bezug auf Fragen der Identität beitragen könnte – etwas, was sie ganz unmittelbar aus ihrer Praxis zieht – könnte durchaus auf dem psychoanalytischen Wissen über Störungen und Angstzuständen beruhen, die sich aus dieser psychischen Realität ergeben: die Identität kann unmöglich definiert werden, wenn ihre Illusion der Einheit durch die Existenz selbst und durch das Wirken des Unbewussten (das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus), anders gesagt, durch die Wiederholung, die sie bestimmt und sie vergewaltigt, aufgelöst wird. Michel de M'Uzan schlug eine Unterscheidung zwischen ‘Wiederholung des Selben’ und ‘Wiederholung des Identischen’ vor: eine wertvolle Differenzierung, die die psychischen Prozesse der Wiederholung und ihre Umwandlungspotentiale erhellt. De M'Uzan stellte Identität und psychische Vorgänge, die mit Identität zu tun haben, ins Zentrum seiner theoretischen Überlegungen. Er sah in der Psyche ein Identitätsregister am Werk, das ‘Vital-Identitale’
[12], in dem es vorrangig um Selbsterhaltung geht. Der Begriff wurde als Echo zum ‘Sexual’ vorgeschlagen, wie Jean Laplanche Freuds Register des Sexualtriebs, der Objektbesetzung und des Narzissmus nannte.
Zwischen Dauerhaftigkeit und Verwandlungen, zwischen Starre und Bewegung, so begegnet uns die psychische Identität, durchdrungen von der Konfliktbewegung der Identifikationen, der Ungewissheit und dem Schwanken der psychischen Grenzen in Zuständen der Angst oder der Verliebtheit, in den eventuell neu interpretierten Zuschreibungen des Genus
[13]. Die psychische Erfahrung, die Freud mit dem ‘Unheimlichen’
[14] schildert – die nicht nur eine Erfahrung des Entsetzens ist, sondern auch die fruchtbare Erfahrung einer Abtretung: der unmittelbare Beweis des Unbewussten – wäre eine starke Veranschaulichung dieser Form von Beunruhigung, die wahrscheinlich in der psychoanalytischen Behandlung nützlichere Auskunft geben kann als im sozialen und politischen Raum.
Wo begegnen einander also das psychoanalytische Denken und politische Überzeugungen in der Behandlung aktueller Fragen nach der Identität? Gewiss in der Notwendigkeit, die Unschärfe oder die ‘Aneignung’ eines Wortes aufzulösen, wie Viviane Abel-Prot
[15] schreibt, aber mit der Forderung, die realen Auswirkungen dieses Einflusses zu untersuchen. Denn selbst wenn wir hinsichtlich der Identität die Felder des Analytischen und des Politischen getrennt halten, gelangen wir wieder zur beunruhigenden Frage der menschlichen Fragilität: die komplexen Ansprüche auf Identifikationen, die eingefordert werden, sobald die Identität bedroht oder gereizt wird, die auf diese Weise hervorgerufenen oder entfesselten Kräfte der Bindung und der Auflösung, auch die Massivität der projektiven Abwehrmechanismen – all das lässt deutlich erkennen, dass Aneignung und Destruktivität häufig gemeinsam auftreten.
[1] ‘Die endliche und die unendliche Analyse". In
Internat. Zschr. Psychoanal., Bd. 23 (1937), S. 209-240. GW, Bd. XVI, S. 59-99, hier S. 64.
[2]Demailly, L. (2018). Que faire des embarras de la psychanalyse avec le politique.
Le Coq-heron, 2018/2 233, S. 42-47.
[3]Franck, A. (2018). Saisir le Politique avec la psychanalyse.
Le Coq-heron, 2018/233, S. 48-49.
[4]Stoloff, J.C. (2018). Psychanalyse et civilisation contemporaine - quel avenir pour la psychanalyse. Paris: PUF.
[5]Descombes, V. (2013).
Les embarras de l’identité. Paris: Gallimard. NRF Essais.
[6]Finkelkraut, A. (2016).
L’identité malheureuse. Folio: Gallimard.
[7]Heinich, N. (2018).
Ce que n’est pas l’identité. Paris: Gallimard.
[8]Demoule, J-P. (2014).
Mais où sont passés les Indo-Européens ? Le mythe d’origine de l’Occident. Paris: Seuil.
[9]Freud, S. (1937). Konstruktionen in der Analyse. In Internat. Zschr. Psychoanal., Bd. 23 (1937), S. 459-469. GW, Bd. XVI, S. 41-56.
[10]Zilkha, N. (2019).
L’altérité révélatrice. Paris: Le Fil Rouge, PUF.
[11]Kahn, L. (2004).
Fiction et vérités freudiennes. Interview with Michel Enaudeau. Balland. 2004. P.288
[12]De M’Uzan M. (2005).
Aux confins de l’identité. Paris: Gallimard.
[13]Tamet, J-Y. (2019). Le genre inquiet. ‘Folies de la norme’,
Le présent de la psychanalyse, 02, September 2019.
[14]Freud, S. (1919). Das Unheimliche.
Imago, Bd. 5 (1919), S. 297-324. GW, BD. XII, S. 227-278.
[15]Abel-Prot V. La mainmise d’un mot. ‘Folies de la norme’,
Le présent de la psychanalyse, 02, September 2019.
Übersetztung: Susanne Buchner-Sabathy, Wien