Während meiner Zeit am Anna Freud Centre in London, wo ich fünf Jahre lang studierte und meine Ausbildung machte, staunte ich immer wieder von Neuem über die Art und Weise, wie Anna Freud auf einen klinischen Fallbericht einging, den eine Studentin oder ein Student, manchmal auch ein Mitglied des Lehrkörpers, in monatelanger Arbeit vorbereitet und ausgearbeitet hatte. Anna Feud benötigte kaum mehr als zehn Minuten dazu, um in kurzen und knappen Worten und auf überaus überzeugende Weise, die metapsychologischen Implikationen der betreffenden Fallgeschichte zu erläutern und einsichtig zu machen. Ich dachte mir damals, dass ich das eines Tages unbedingt auch einmal können wollte. Anna Freuds Herangehenssweise bei der Konstruktion der Fallgeschichte war stets die gleiche: sie begann mit einer Beschreibung und erst im Anschluss daran lieferte sie eine Deutung. Seinerzeit schrieb ich dies ausschließlich ihren intuitiven Fähigkeiten zu. Heute weiß ich – und in gewisser Weise weiß ich es tatsächlich erst heute – dass hinter ihrer Vorgehensweise auch eine Technik und Methode steckte, und dass man diese Fähigkeit durchaus erlernen und sich durch beständiges Üben aneignen kann.
Ein weiterer Aspekt, der charakteristisch, ich möchte fast sagen, typisch war für Anna Freuds Herangehensweise, war ihr philosophischer Pragmatismus. Während andere groß und breit über die Vorzüge bzw. Nachteile des topographischen oder strukturellen Modells diskutierten oder sich über ihre Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit die Köpfe heiß redeten, sagte sie dazu bloß etwa das Folgende:
Im Unterschied zu den Leuten, die bei ihrem Eintritt in die Psychoanalyse die Strukturtheorie bereits vorfanden und das topische Schema als der Vergangenheit angehörig betrachteten, wuchs ich mit dem topischen Schema auf und erlebte in meiner eigenen psychoanalytischen Entwicklung den Übergang zum strukturellen Modell. Ich muss gestehen, dass ich … nie die scharfe Unterscheidung zwischen den beiden Modellen gemacht habe, die spätere Autoren trafen, sondern meinen Bedürfnissen entsprechend den einen oder den anderen Bezugsrahmen benützte.
Sandler mit Anna Freud, 1985.
Jetzt, und vielleicht zum ersten Mal, habe ich wirklich begriffen, was das Verbindende ist zwischen diesen beiden Theoriemodellen: Ich würde sagen, zusammen und im Verhältnis zueinander betrachtet, sind die beiden Modelle Indizes für eine strukturelle zeitliche Verschiebung. Zuerst werden vom Subjekt Sedimente der Geschichte ausgewählt, die es sich dann im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte immer mehr aneignet. Aus diesen Aneignungen wird dann, zweitens, allmählich eine Vorstellungswelt kreiert. Und aus dieser Vorstellungswelt kristallisieren sich, drittens, die Übertragungswünsche, Forderungen, Bitten und Klagen des Subjekts heraus, und diese treten dann später im Rahmen des analytischen Settings in Erscheinung und kommen so im öffentlichen Raum zwischen Patient und Analytiker ins Spiel. Die Intentionalität, die hinter diesen Wünschen, Forderungen, Bitten und Klagen insgeheim am Werk ist, erfordert eine inter-aktive reziproke Verbindung und eine inter-aktive reziproke Korrektur in der Zusammenarbeit von Patient und Analytiker, um bisher ungelöste Konflikte, Defizite und Kränkungen wiederholt auszuhandeln und durchzuarbeiten, solange bis die innere Welt des Subjekts schließlich eine Neukonfiguration erfährt. Am ausführlichsten habe ich über meine auf dieser spezifischen Hypothese aufbauende Arbeit in einem Artikel geschrieben, der im Januar 2006 in einer Sondernummer der Zeitschrift 'The Psychoanalytic Quarterly' zum Thema 'interkulturelle Analyse' erschienen ist.
Worin zeigt sich nun diese strukturelle Verschiebung zwischen dem topographischen und dem strukturen Modell? Wie hat man sich die Beziehung vorzustellen zwischen den Bezugsfeldern der Innenwelt und denjenigen der Außenwelt, und umgekehrt, zwischen den Bezugsfeldern der Außenwelt und denjenigen der Innenwelt? Und wie kommt es, dass ein Elternteil selber Eltern hat, und dass wir dennoch bei unseren psychoanalytischen Untersuchungen übermäßig und fast ausschließlich auf die Beziehung zwischen der primären Fürsorgeperson und dem Kind Bezug nehmen? Ich denke, folgende Frage ist entscheidend: Welche Rolle bzw. welche Funktion kommt dem Generationen-übergreifenden Moment in der psychoanalytischen Arbeit zu? Diesen und anderen Transformationsprozessen in der Entwicklung und Konstituierung der Psyche des Subjekts gilt nun schon seit einer Reihe von Jahren mein bevorzugtes Interesse.
Auf einige der oben gestellten Fragen wurden in der psychoanalytischen Literatur auch bereits Antworten gegeben. Andre Green beispielsweise hat in einem im Jahre 2000 gehaltenen Vortrag bei der Squiggle Foundation in London argumentiert, dass aufgrund einer strukturellen Verzögerung das „Paradies“ der Mutter-Kind-Beziehung ins Es übersetzt wird. Die Beziehung der Mutter zu ihrer Mutter übersetzt sich dabei ins „Ich“. Das „Über-Ich“ hingegen repäsentiert das Endergebnis der väterlichen Funktion, die der Zwei-in-Einem-Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Baby, mit dem sie durch ein körperliches Band verbunden ist, schließlich ein Ende setzt. Wenn A. Green behauptet, dass die väterliche Funktion allmählich in die Über-Ich Bildung übergeht, so verweist er implizit darauf, dass das Fortschreiten der Zeit so etwas wie einen Sinn für Ordnung erzeugt und gleichzeitig ein Verbot etabliert, welches besagt, dass das Kind einer anderen Generation angehört als der Vater. Das ist auch der Grund dafür, warum für die Definition des menschlichen Subjekts zwei Generationen nicht ausreichend sind, und es dafür mindestens dreier Generationen bedarf, weil schon in der Mutter-Kind-Beziehung immer auch die potentielle Vorstellung des Vaters in der Mutter und die potentielle Vorstellung des Vaters außerhalb der Mutter implizit vorhanden ist. Mit anderen Worten, in Andre Greens klinischer Konzeptualisierung ist es die Zeitlosigkeit des Unbewussten, die das väterliche Verbot allererst herausfordert und notwendig macht, um überhaupt so etwas wie Ordnung, Generalisierung und Kontinuität zu gewährleisten.
Die Drei-Generationen-Hypothese ist in der Psychoanalyse durchaus nicht neu. Im Hinblick auf die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Subjekts, argumentierte z. B. Heinz Hartmann (1958), dass sich das menschliche Subjekt nicht in jeder Generation quasi von Neuem an seine Umwelt anpassen muss. Es sei vielmehr so, dass unsere Beziehung zur Umwelt dadurch gewährleistet wird, dass ein jeder Einzelne von uns an der Menschheitsgeschichte Anteil hat, indem er oder sie von der Tradition und den von den Menschen vormals gemachten Erfindungen Gebrauch machen kann. Den Großteil der Techniken und Methoden für unsere (alltäglichen) Problemlösungen haben wir demgemäß von anderen, die meist schon vor unser Zeit gelebt haben, übernommen. So betrachtet kann man durchaus sagen, dass wir nicht nur in unserer heute gegenwärtigen Generation, sondern in gewisser Hinsicht auch in vergangenen Generationen leben.
Nach Hartmann haben noch eine ganze Reihe anderer Autoren das Konzept der Generationen-übergreifenden Transaktion weiter gedacht und in ihren Arbeiten eingehend beschrieben. Haydee Faimberg (2005), Vamik Volkan (2002) und M. Apprey (1993) haben auf unterschiedliche Möglichkeiten aufmerksam gemacht, wie das Ich in manchen Fällen tyrannischen Intrusionen ausgesetzt und unterworfen ist: dabei sieht sich das Subjekt gezwungen, Aufträge bzw. Mandate intrusiver elterlicher Projekte auszuführen, mit denen sich das Ich schließlich identifiziert und sie sich als seine eigenen aneignet. Mein eigenes aufkeimendes theoretisches Interesse für diesen unbewussten Transfer zwischen Subjekt und Objekt reicht bis in eine Zeit zurück, als ich nicht älter war als fünfzehn Jahre. Zu jener Zeit damals wusste ich allerdings noch nicht, dass ein Schüler bzw. Student Mitgefühl haben sollte mit seinem Lehrer, wenn dieser alles in seiner Macht Stehende tut, um sein Bestes zu geben. In einer Unterrichtsstunde für englische Literatur, versuchte mein damaliger Lateinlehrer, der uns Schülern auch die Dichtung von W. H. Auden nahe zu bringen versuchte, die Denkfigur „dringende freiwillige Fahrten“ („urgent voluntary errands“) aus Audens Gedicht „Auf dieser Insel“ („On this Island“) als ein Oxymoron zu beschreiben, d. h. als einen Widerspruch in sich selbst. Ich erinnere mich noch genau, wie ich damals aufbegehrte und gegen seinen lässigen und, wie ich fand, ziemlich arroganten Deutungsversuch von W. H. Audens Denkfigur heftig protestierte. Ich konnte es einfach nicht hinnehmen, dass bei seiner Deutung von Audens aussagekräftiger Metapher etwas aus dem Blickfeld geriet, das mir unglaublich wichtig erschien und ein der conditio humana innewohnendes Paradox zum Ausdruck brachte. Intuitiv wusste oder ahnte ich nämlich schon damals, dass das Dringende bzw. Zwingende und das Freiwillige unter ein und dem selben Dach, i. e. in ein und der selben Metapher Platz finden und ko-existieren können, weil sie nämlich auf einen zutiefst menschlichen Konflikt verweisen. Heute würde ich diesen Konflikt folgendermaßen beschreiben: als einen dringend infundierten Auftrag, der dann infolge einer freiwilligen Aneignung ausgeführt wird. Diese Aneignung geschieht via Mentalisierung, wodurch schließlich eine strukturelle Verschiebung stattfindet. Das Subjekt und das Objekt werden am Ende dieses Transfers die Plätze getauscht haben, sodass das Subjekt das (mentale) Gift von nun an gewissermaßen als sein bzw. ihr eigenes Gift ab- bzw. von sich gibt. Ich glaube, erst heute weiß ich wirklich, wie wegweisend und prägend jene Auseinandersetzung mit meinem Lateinlehrer, der mich zudem in englischer Literatur unterrichtete, damals war. Heute schreibe ich über mütterliche Missverständnisse bzw. Fehlvorstellungen, über trans-generationelle Heimsuchung, über Träume von 'dringenden freiwilligen Fahrten oder Gängen', und über andere Konzepte von psychischem Transfer und der Aneignung in die mentale Welt der Repräsentationen.
In meinem späteren Leben gab es zwei Dinge, die mir dann ganz wesentlich dabei halfen, mein Denken und meine Arbeit über den psychischen Transfer weiter zu entwickeln und entscheidend voranzubringen: das eine war die Psychoanalyse; und das andere war die kontinentale Philosophie. Was die Psychoanalyse betrifft, so waren es vor allem die Arbeiten von Robert Stoller, die mir weiter halfen und entscheidende Anregungen lieferten. Was mein Studium der französischen Rezeption von Edmund Husserls Philosophie angeht, so studierte ich eingehend u. a. Rene Descartes, Michel Foucault, Gaston Bachelard, Maurice Merleau-Ponty, Georges Politzer und Claude Romano.
Was die Psychoanalyse betrifft, so beeindruckte mich insbesondere eine ganz bestimmte Falldarstellung von Robert Stoller. Darin berichtet er von einer Mutter, deren neunjähriger Sohn den unbedingten Wunsch hatte, ein Mädchen zu werden. (Stoller 1968) Die Mutter berichtete dann von ihrer Beziehung zu ihrer eigenen Mutter, zu einer Zeit, als sie mit ihrem Sohn schwanger war und bevor sie ihn zur Welt brachte. Sie sagte, sie sei sich in der Beziehung zu ihrer Mutter damals vorgekommen wie eine Null. Sie habe nur noch hoffen können, eine Nonne zu werden. Man beachte, dass das englische Wort „nun“ für Nonne phonetisch gleich klingt wie das englische Wort “none”, was im Deutschen 'niemand' oder „nichts“ bedeutet. Bevor sie dann ihren Sohn gebar, hatte die Mutter einen ständig wiederkehrenden Traum: „Ich war gestorben und jetzt war ich tot. Aber meine Mutter schickte mich trotzdem immer wieder auf Gänge zum Lebensmitteladen, um dort Besorgungen zu machen, da sie mir nicht einmal genug Beachtung geschenkt hatte um zu merken, dass ich tot war“. Dieser klinische Fall und Stollers Deutung der Leere einer Mutter sowie der Weigerung einer Großmutter ihrer eigenen Tochter, (die gerade dabei war, selber Mutter zu werden), ihre Weiblichkeit zu leihen, was bei der Mutter zu einem massiven Objekthunger führte in Verbindung mit einer persistierenden Bisexualität, stellten für mich an sich noch keine Offenbarung dar. Dennoch war Stollers Bericht für mich in gewisser Hinsicht eine Bestätigung für etwas, das ich immer schon mehr oder weniger, d. h. quasi intuitiv, wusste, und das ich unbedingt weiter erforschen wollte.
Im Zuge meiner Beschäftigung mit der kontinentalen Philosophie kamen mir die folgenden Vorstellungen bzw. Konzepte vom menschlichen Subjekt als besonders bemerkenswert vor: Bei Descartes, so können wir berechtigterweise sagen, führt seine Begegnung mit der „Wahrheit“ bzw. mit der unbezweifelbaren Gewissheit das menschliche Subjekt zur Selbsterkenntnis. Bei Foucault hingegen erkennt sich das Subjekt durch die fortwährende Begegnung mit „Irrtümern“, als da wären: Fehleinschätzungen und Misskalkulationen, Täuschungen, zielloses Umherirren, allesamt vorbewusste und unbewusste Repräsentationen von weltlichen Mandaten. Bei Husserl konstituiert das forschende Subjekt inter-subjektive Phänomene ohne Vorannahmen und ausschließlich im Dienste der Treue zum wahrgenommenen Objekt. So gesehen befinden wir uns, wenn wir die wahrgenommenen Phänomene inter-subjektiv und konstitutiv erschaffen, immer auf dem Weg von den Ereignissen der Geschichte hin zum Sinn der Geschichte. Bei Claude Romano schließlich erfährt das Subjekt, das bei Husserl die Phänomene konstituiert, eine weitere Radikalisierung, sodass das Subjekt nunmehr eines ist, das zu sich selbst zurückkehrt: ein „Advenant“. (Romano, 2009).
Indem ich also Konzepte und Vorstellungen aus der Psychoanalyse mit solchen aus der kontinentalen Philosophie in Zusammenhang brachte, wurde es mir möglich, Freuds Beschreibung der vier Eigenschaften der Triebe auf ganz neue Weise zu denken und zu begreifen. Ging ich früher davon aus, dass der Trieb eine biologische Quelle hat, und dass er auf einen Drang hin aktiviert wird, dass er ein Ziel hat und schließlich, dass er ein Objekt hat, so stelle ich es mir heute eher folgendermaßen vor: Jenseits des biologischen Geschehens wird ein anzestrales, i. e. von einem Vorfahren her stammendes, Mandat aktiviert, das in Form eines gebieterischen, zwingenden Wunsches zum Ausdruck drängt. Allerdings erfahren die unbewussten Wünsche hinter diesem Auftrag bzw. Mandat im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Subjekts eine strukturelle Verschiebung, wodurch die unbewussten Wünsche einen Teil ihrer Dringlichkeit verlieren, während sie aber gleichzeitig in einem Zustand der Schwebe oder Suspendierung gehalten werden. Aktive Injektion und erleidende, passive Rezeption tauschen die Plätze; die Instanzen von Subjekt und Objekt verkehren sich in ihr jeweiliges Gegenteil. Das Objekt, das ursprünglich im Dienste der Erfüllung von Wünschen und der Befriedigung des Subjekts stand, ist schließlich zu einer Instanz innerhalb der Vorstellungswelt des Subjekts geworden, man könnte auch sagen, zu einem introjizierten Selbst.
Bei meiner Umdeutung oder vielmehr Reformulierung von Freuds metapsychologischen Grundannahmen ist mir eines immer deutlicher zu Bewusstsein gekommen: Während wir meinen, uns auf dem Weg hin zu etwas zu befinden, stellen wir bisweilen mit einmal voller Estaunen fest, dass wir zuvor bereits dort gewesen sind, wo wir hin wollen. Anders ausgedrückt: wir meinen, dass wir uns ein Projekt vornehmen, bloß um dann voller Verwunderung festzustellen, dass dazu schon längst vorher ein Auftrag bzw. Mandat an uns ergangen war.
So gesehen darf man die psychoanalytische Zeit, aufgefasst als Zeitlosigkeit, nicht einfach von dem abgrenzen, was wir mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezeichnen. Ich bin vielmehr der Ansicht, wir müssten einen Begriff bzw. ein Konzept zur Verfügung haben wie etwa: vorvergangene Zeit („pluperfect time“).
Meine eigene Synthese von verschiedenen Konzepten und Vorstellungen aus der Psychoanalyse und aus der kontinentalen Philosophie, welche Phänomene wie psychischer Transfer, trans-generationelle Transmission destruktiver Aggression etc. fassbar zu machen versuchen, haben mich schließlich zu ähnlichen Gedanken und einer ähnlichen Schlussfolgerung gebracht wie sie Gaston Bachelard formuliert hat, wenn er behauptet: Synthese ist Transformation. Meine Synthese von Auden, Freud, Husserl, Foucault und Romano und anderen, hat es mir nämlich möglich gemacht, das Konzept vom Gang in die „Vorvergangenheit“ („pluperfect“ errand) zu prägen.
Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Vorstellung vom Gang in die Vorvergangenheit Freuds Konzept von der “Nachträglichkeit“, was im Englischen für gewöhnlich mit „deferred action” (aufgeschobene Handlung) wiedergegeben wird, erweitert und in all seiner Komplexität durchschaubarer und transparenter macht. Ich möchte im Folgenden eine zirkuläre zehnstufige Taxonomie von der Nachträglichkeit im Falle der trans-generationellen Weitergabe von zerstörerischer Aggression vorschlagen: Erstens: ein destruktives anzestrales Mandat drängt zum Ausdruck im Falle einer traumatisierten Familie, Gemeinschaft, oder Gruppe, die dann den Versuch unternimmt, den tatsächlichen Ereignissen der Geschichte nachträglich einen Sinn bzw. eine Bedeutung zu verleihen. Das traumatisierte Subjekt folgt einem inneren Diktat, wenn es verzweifelt versucht ein geeignetes (Wirts-)Objekt zu finden, in das es das psychologische Gift injizieren kann. Zweitens: durch eine strukturelle Verschiebung, wird das injizierte giftige Projekt, und zwar für einen unbestimmten Zeitraum, eingelagert und dort aufbewahrt. Drittens: das so einglagerte injizierte Mandat, das für einen unbestimmten Zeitraum in der Schwebe gehalten wird, wird vom Subjekt als numinos empfunden. Viertens: der Schwebezustand bzw. die Suspendierung hält solange an, bis ein Gang in die Vorvergangenheit den Träger des Mandats seiner Handlungsbefugnis und seiner Handlungsmacht quasi wie ein Dieb in der Nacht heimlich beraubt. Fünftens: im Fall eines solchen „dringenden freiwilligen Ganges“ tritt eine paradoxale Situation ein. Sechstens: dem Subjekt, das diesen fremden Auftrag als Erbschaft mit sich herum trägt und ihn als seinen eigenen angenommen hat, bleibt schließlich nichts anderes übrig, als sich ein neues Umfeld und einen neuen Kontext zu suchen, um diese Erbschaft in einem öffentlichen Raum zu re-aktivieren; und zwar an einem Ort, wo es nun in der Realität eben nicht verfolgt wird. Siebtens: dem Subjekt ist in der Zwischenzeit jegliches Gewahrsein dafür abhanden gekommen, dass es von einer fremden Macht beauftragt wurde. Achtens: die Kategorien von aktiv und passiv sind längst in irreversiblen und unrepräsentierbaren Vorstellungen fixiert. Neuntens: genau aus dem Grund, weil das infundierte Mandat nicht repräsentiert werden kann, sind aktive oder passive Stimmen unhörbar. Zehntens: Eine mittlere Stimme muss jetzt gefördert und gestärkt werden, genauer gesagt, sie muss vom analytischen Paar durch eine reziproke Verbindung und eine reziproke Korrektur im Fortgang des therapeutischen Prozesses gemeinsam kreiert werden.
Mit diesen theoretischen Überlegungen und Konzepten im Bewusstsein habe ich bei der Durchführung meiner Analysen ausnahmslos die Beobachtung machen können, dass sich im Laufe des analytischen Prozesses der unbewusste Gang („errand“) früher oder später offenbart. Jetzt erst wird mir eigentlich zum ersten Mal so richtig klar, dass ein relativ einfaches Wort wie zum Beispiel “errand” („Fahrt“ / „Gang“) wegweisend sein kann, um schließlich das Geheimnis sowohl von gewöhnlichen als auch von ungewöhnlichen Phänomenen aufdecken zu helfen. Dabei können metapsychologische und philosophische Hypothesen und Konzepte durchaus zusätzlich von Nutzen sein und können zu einem differenzierteren und profunderen Verständnis heran gezogen werden. Allerdings sollten sie während der analytischen Arbeit mit einem Patienten weitgehend in den Hintergrund treten und quasi vergessen werden; anders gesagt, sie sollten lediglich als geistiger Hintergrund im Bewusstsein des Analytikers präsent sein, um so zu gewährleisten, dass der Analytiker in der Analyse seinem Patienten nicht zu sehr voraus eilt.
Literatur
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Apprey, M. 1993. Projective identification and maternal misconception. In: Apprey, M. and Stein H. Intersubjectivity, Projective Identification and Otherness, pp. 76-101. Pittsburgh: Duquesne University Press.
Apprey, M. 1993. Dreams of urgent/voluntary errands and transgenerational haunting in transsexualism. In: Apprey, M. and Stein, H. Intersubjectivity, Projective Identification and Otherness, pp. 102-130. Pittsburgh: Duquesne University Press.
Faimberg, H. 2005. Teleskoping. Die intergenerationelle Weitergabe narzisstischer Bindungen. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, 2009.
Green. A. 2004. Andre Green at the Squiggle Foundation. London: Karnac Books.
Heinz Hartmann. 1958. Ich-Psychologie und Anpassungsproblem. Stuttgart: Klett-Cotta, 1991.
Romano, C. 2009. Event and World: New York: Fordham University Press.
Sandler, J. mit Freud, A. (1985). Die Analyse der Abwehr. Stuttgart: Klett-Cotta, 1989.
Volkan, V. 2002. Third Reich in the Unconscious. New York: Routledge.
Aus dem Englischen übersetzt von M. A. Luitgard Feiks und Juergen Muck, Nuertingen am Neckar